Leos Rückkehr

Es war ein heißer Herbst dieses Jahr. Nach dem verregneten Sommer freute das Leo sehr. Er schlenderte gemütlich in Richtung Stadt. Die Sonne im Rücken war eine Wohltat und sein eben gefüllter Bauch dankte ihm für den Besuch auf dem Land. Inzwischen hatte er viel gelernt und er tat sich nicht mehr so schwer satt zu werden, schon gar nicht solange es noch Bäume gab, die Obst trugen. Der Hunger im ersten Jahr hatte ihn zu etlichen Rasterfahndungen rund um die Stadt genötigt, bis er die Stellen kannte, wo verlassen und vergessen Obsthaine ihre Früchte jedem feilboten, der willens war, seinen Arm nach ihnen auszustrecken. Als kleines Sparpaket hatte er eine Tüte voll Äpfel in seinem Rucksack und etliche Zwetschgen in seiner Jacke, die er vorsichtig um seine Hüfte gebunden hatte.

Wohlgelaunt setzte er seinen Weg fort und ließ sich auch nicht von den vorbeischießenden Fahrzeugen aus der Ruhe bringen. Die teils riskanten Überholmanöver, um später als erster im Stau zu stehen, stimmten Leo eher nachdenklich, als dass es ihn ängstigte. Vielleicht, so sinnierte er, sollte die Polizei neben Alkoholkontrollen auch Stresstests durchführen. Es war beängstigend, doch auf der Straße erkannte man den Sozialabbau am besten, es herrschte Krieg, einer gegen alle und alle gegen einen.

Leo spürte wie er sich nun doch ärgerte.

„Nein, ich will noch nicht in die Stadt“, sprach er zu sich selbst. Er erblickte eben einen kleinen Parkplatz, der sich in eine Kurve drückte und der von einige Bäume umgeben war. Oft hielt er hier eine kleine Rast, um noch einmal richtig durchzuatmen. Meist war es hier schattig und feucht, doch er hatte Glück. Die etwas notleidende Bank war in die Nachmittagssonne getaucht und war trocken und angenehm warm, als er sich hinsetzte. Die Sonne wärmte sein Gesicht und er schloss die Augen. Bald würde der Winter kommen, trübte ein Gedanke seine Stimmung. Leo erinnerte sich an sein früheres Leben, doch wie so oft wirkte es für ihn fern und fremd. Es war nicht sein Leben, er war nicht mehr der, der er einmal gewesen war vor dem großen Fall. Erst jetzt wusste er, was Freiheit bedeutete und er wusste wie sehr er gefangen gewesen war. Dabei war er immer am Puls der Welt gewesen, Multimedia war sein Leben, immer erreichbar, immer unterwegs und fortwährend bestrebt noch erfolgreicher zu sein. Leo öffnete seine Augen, betrachtete seine Hände und fragte sich, wie ihm sein altes Leben so leicht hatte entgleiten können? Seine Hände waren schmutzig. Ihm war nicht aufgefallen, dass die Bank an einer Stelle geharzt hatte. Susi tauchte in seinen Händen auf. Eigentlich hieß sie Susanne, aber er hatte sie immer Susi genannt, so wie sie seinen Namen zu Leo verkürzt hatte. Seinem Vater hatte das gar nicht gefallen. Er war einer der alten Garde. Vielleicht hatte er Susi auch deshalb verloren. Er war zu sehr geworden wie sein Vater.

Verwundert stellte Leo fest, dass seine Hände nicht wie sonst zitterten, wenn er an sein früheres Leben dachte. Aber vielleicht lag es auch daran, dass er nicht an alles dachte, sondern nur an das, was er wirklich verloren hatte. Eigentlich, so wurde er sich eben bewusst, war es nur Susi, die er vermisste, ihr Lachen, ihre Wärme, mit ihr über alles reden zu können. Sorgenfalten legten sich auf seine Stirn. Er hatte viel zu wenig mit ihr geredet. Viel zu wenig über die wichtigen Dinge, und mehr noch spürte er, dass er auch zu wenig über die unwichtigen Dinge gesprochen hatte. Kein Wunder, dass sie gegangen war. Eigentlich war er es, der sich von ihr getrennt hatte, ohne Worte, ohne Taten. Er hatte an ihr, und mehr noch an sich selbst vorbei gelebt.

War er deshalb so tief gefallen? Fand er deshalb nicht mehr zurück, weil er sich schon lange davor selbst verloren hatte?

Die Sonne setzte ihren Weg fort und ein einzelner Tannenast legte seinen Schatten auf die Bank. Es war der wärmste Augenblick des Tages, das wusste er, aber dennoch beschlich ihn ein Frösteln. War es die Vorahnung des Winters?

Er schüttelte das klamme Gefühl von sich. „Genug gerastet“, mahnte er sich. „Wir haben noch einiges vor.“ Er erinnerte sich an seinen Plan und fand wieder zu sich.

Er stand auf und spürte, dass auch seine Jacke Harz abbekommen hatte. Das würde ihn noch eine Weile ärgern, aber für den Moment war er nicht gewillt, sich damit zu beschäftigen.

Nach einem Kilometer kamen die ersten Häuser. Er war noch nicht ganz in der Stadt. Es war eher ein verschlafenes Dorf, das bald von der Stadt zugeschüttet werden würde. Hier gab es für ihn nichts zu suchen. Er spürte nur, wie die Hektik der Autofahrer zunahm. Gut, dass er hier einen Bürgersteig hatte, auf dem er sich vor diesen wild hupenden Wutbürgern verstecken konnte.

Nun, da ihn die Häuser flankierten, fand Leo, dass sich der Weg länger zog. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er im Vorbeigehen durch die Fenster schaute. Doch in den meisten Wohnungen herrschte zu dieser Stunde ohnehin Stille und die Lichter waren aus. Das hinderte ihn trotzdem nicht daran, sich Geschichten auszudenken, wie es heute Abend dort drinnen sein mochte. Er liebte es, sich die Häuser voller Leben vorzustellen. Zumindest solange bis ihm schmerzlich bewusst wurde, dass er hier draußen stand, allein, mit einer Geschichte, für die sich keiner interessierte.

„Es wird Zeit, dass ich in die Stadt komme!“ Er beschleunigte seine Schritte, da er wusste, dass die vielen unbeirrbaren Menschen seine Melancholie verscheuchen würden. Er würde sich einfach an eine belebte Kreuzung stellen und dem wilden Treiben zusehen. Diese Impfung war seine Rettungsroutine gegen diese Vorstadtidylle. Sie zeigte ihm wie frei er war, ohne dieses als alternativlos vermarktete Hamsterrad.

Die Natur war allmählich auf dem Rückzug, und schon tauchte der erste Blumenladen auf. Ein geschäftig wirkender Mann stand mit einem Blumenstrauß davor und versuchte mit seiner freien Hand gleichzeitig zu telefonieren und sein Portemonnaie zu verstauen.

„Armer Kerl“, murmelte Leo. Für welche Lüge die wohl sein würden? Die, die er ihr erzählte oder die, die er lebte? Leo schüttelte den Kopf und ging weiter.

Jetzt ging alles Schlag auf Schlag, und bevor Leo sich versehen hatte stand er an einer seiner Lieblingsstellen. Er war gefüllt mit einer Unzahl an Kurzgeschichten, die für ihn zusammen ein Mosaik des Lebens ergaben. Hier an der großen Kreuzung tankte er den Klebstoff mit dem er alles verband. Noch war es zu früh, doch die ersten hatten bereits Feierabend oder eilten von einem Termin zurück ins Büro. Leo stand etwas abseits von einem breiten Zebrastreifen auf dem Bürgersteig. Die Menschen, die an ihm vorbeiströmten, beachtete er kaum, auch wenn es leicht belustigend war, wie unterschiedlich sie auf seine Anwesenheit reagierten. Einige nahmen ihn gar nicht wahr, aber die Mehrheit unterteilte sich in die, die ihn mitleidig oder beschämt ansahen und die, die verkrampft so taten als würden sie ihn nicht sehen. Er zeigte keine Regung. Er konzentrierte sich auf das Gesamtbild in einiger Entfernung, die einzelnen Menschen waren dabei unwichtig. Er liebte den todesmutigen Tanz der Menschenströme mit den unruhig rollenden Blechlawinen. Es hatte etwas Anmutiges an sich, wie sich die fremden Menschen im Gleichklang von Rot-Grün pulsartig über die Straßen ergossen, bevor sich Lücken in der Autoflut schlossen.

Leo lachte zufrieden auf und wandte sich der Innenstadt zu. Neben ihm blieb ein Passant erschrocken stehen. Amüsiert lächelte Leo ihm zu. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Leo. Der Mann beeilte sich wortlos wegzukommen. Von einem Lachen in die Flucht geschlagen, höhnte Leo innerlich. Diese Gesellschaft war doch echt krank. Eine Gesellschaftsreform wäre da echt angebracht.

Eigentlich wollte Leo in die gleiche Richtung, doch er ließ den Mann in Ruhe ziehen. An der ersten Kreuzung bog er ab. Einen festen Weg hatte er ohnehin nicht und Zeit besaß er obendrein. Es war eine eher ruhige Straße an der man den Puls der Stadt nicht spürte, deshalb ging er selten hier lang. Ohne dass es beabsichtig war, begann er gleich mit seiner Arbeit. Er wurde zu schnell zu umfänglich fündig, als dass er daran vorbeigehen konnte. Er wühlte kurz in seinem Rucksack. Als er es rascheln hörte zog er eine der zahlreichen Tüten hervor und hob Zigarettenschachteln, Dosen und andere Verpackungen auf. Eine wirkliche Arbeit war es nicht. Es war vielmehr eine aus seiner Wut geborene Tätigkeit. Er wollte nicht, dass die Menschen seine Welt verschmutzten. Als er hatte feststellen müssen, dass alles Aufregen nichts half, fing er damit an den Schmutz aufzuheben. Er hatte ohnehin nicht viel zu tun und nun war er der Verschmutzung nicht mehr hilflos ausgesetzt. Vielleicht war es, weil er nie einer gewesen war, der etwas einfach hinnehmen konnte, vielleicht war es aber auch sein Hang zum Zynismus. Es selbst hatte schon oft darüber nachgedacht, was ihn dazu verleitet hatte, aber ganz sicher war er sich nicht. Aber die Vorstellung auf die einfältige Gesellschaft hinabzublicken, während diese zu ihm herabsah, erheiterte ihn zutiefst. Derart abgelenkt vom gesellschaftlichen Treiben schlenderte er im Zickzack durch die Einkaufsstraßen. Es war eine seiner besten Ideen gewesen, denn sie hatte ihm seine Würde gerettet, wie er fand, denn er hatte bis zum heutigen Tag nicht einmal betteln müssen, auch wenn er oft hungrig gewesen war, aber das wollte er nicht. Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, gab es etliche Leute, die seinen Einsatz derart bewunderten, dass sie sich bei ihm bedankten, ihm Lob aussprachen und ihn mit Münzen für seinen gesellschaftlichen Dienst entlohnten. Anfangs hatte er den Schmutz noch selbst angefasst, doch inzwischen nannte er eine Zange und zwei Handschuhe sein Eigen. Inzwischen war er eine kleine Berühmtheit, selbst Stadtführer stellten ihn vor. Wenn Tobias mit einer Horde Japaner an ihm vorbeitrabte, dann konnte Leo sich sicher sein, dass mindestens die Hälfte ihm über die Schulter streichelte oder darauf klopfte, weil Tobias ihnen versicherte, dass dies Glück bringen würde. Mit der technisch-kapitalistisch aufgeklärten Gesellschaft der heutigen Zeit, war es selbstredend, dass sie sich bewusst waren, dass auch ein Glücksautomat nur dann funktionieren konnte, wenn Münzen eingeworfen wurden. Besonders Japaner taten dies mit größter Freude und dem breitesten Lächeln. Das nächste Mal, wenn sich Tobias und Leo trafen, würden sie Halbe-Halbe machen, jedenfalls glaubte Tobias das. Eigentlich gab ihm Leo alles, weil er nicht auf diese Weise Geld verdienen wollte. Mit dem Glauben anderer macht man keine Geschäfte. Aber Leo wusste, dass Tobias das Geld wirklich brauchte. Seine Frau war dem Alkohol verfallen und depressiv. Das Geld legte er zur Seite, weil nächstes Jahr seine älteste Tochter studieren ging.

Die erste Tüte war schnell voll. Nicht weit entfernt fand er eine öffentliche Schutttonne. Er löste den Knoten mit dem er sie an sich befestigt hatte. Leo spürte wie die Tüte an ihm festgeklebt war. Zum dritten Mal ärgerte er sich über den Harz. Da würde er später etwas unternehmen müssen. Er knotete die Tüte zu und entsorgte sie. Das war ein Moment, der ihn stets nachdenklich stimmte. Waren denn die anderen Menschen derart ungebildet, dass sie zu einer solchen logistischen Glanzleistung nicht fähig waren?

Er schüttelte den Gedanken weg und nahm gleich die zweite Tüte. Er ging keine zwanzig Meter, da stockte er. Was war denn hier los? Eine Schlange an Wartenden zog sich um die Ecke. Er folgte in sicherer Entfernung der zum Stehen verdammten Pilgerfahrt und fand in der Quergasse des Rätsels Lösung. Ein Kommunikationsgerätehersteller pries sein neustes Modell an und heute war der Verkaufsstart. Leo ließ sich Zeit, die dargebotene Show zu genießen. Die Fanmeile des Kapitalismus war erstaunlich heterogen. Am meisten faszinierte ihn die Spezies, die dort wartete und ungeduldig auf die Uhr blickte und ihrem Ärger, hier warten zu müssen, mit verzogenem Gesicht Luft machte und gequält ausatmete. Opfer des eigenen Wahns.

Leo behauptete immer er besäße auch ein Kommunikationsgerät. Aber seines habe eine Reichweite von rund dreißig Metern, wenn er unhöflich war. Aber meist nutzte er es nur auf eine Distanz von ein bis zwei Metern. Dafür war aber die Auflösung unschlagbar und es besaß sogar ein Touchscreen, welches einem eine recht plastische Vorstellung seines Gesprächspartners ermöglichte. Aber dieses nutzte Leo äußerst selten, es führte schlicht zu zu vielen Irritationen.

Leo war also bedient und nahm die nächste Gasse in Angriff. Als diese ihn schließlich in einem Viertel mit hohen Bürogebäuden herausspuckte, entsann er sich wohin er wollte und schlug einen Bogen ein, der ihn zurück führen sollte.

„Warte“, rief jemand. Erst reagierte Leo nicht, aber der Mann schien ihn zu meinen. Als Leo sich umdrehte, fiel ihm auf, dass sie beide allein waren. Er musste ihn wohl meinen.

Leo blieb stehen und wartete bis der Fremde zu ihm stieß. Dieser konnte sich nicht entscheiden ob er zügig schreiten oder langsam laufen sollte. In seinem Anzug wirkte das Laufen auch merkwürdig.

„Habe ich dich endlich“, freute sich der Fremde und gönnte sich einige Augenblicke, um zu Atem zu kommen.

„Scheint so zu sein“, lobte Leo ihn und lächelte ihm freundlich zu.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du so schwer zu finden bist“, lachte er.

Leo nickte zustimmend, ohne zu wissen, um was es ging.

„Ich schulde Steve einen Gefallen“, begann er sich zu erklären und hob eine Papiertüte vor sich. „Ich musste ihm versprechen, dir dies zu geben.“

„Oh, es ist Donnerstag“, begriff Leo endlich. „Er sagte mir er wäre für ein halbes Jahr in den Staaten.“

„Genau, er sagte mir, wo ich dich Donnerstagsabends finden würde.“ Er blickte hinter sich.

Leo lachte auf. „Und weil ich dachte, er wäre nicht da, bin ich nicht gekommen. Dann hast du es jetzt drei Wochen versucht?“, fragte Leo verblüfft.

„Ja“, erklärte der Fremde und klang selbst verwundert.

Leo nahm die Tüte entgegen und wagte einen Blick hinein. Zwei Doppelschnitten Rosinenbrot mit je einer Lage Schinken und einer Lage Käse und wenn er sich nicht schwer täuschte, dann lagen unten noch etliche Kirschtomaten.

„Vielen Dank!“ Leo war ehrlich bewegt. Dieser Moment stellte mehr dar als ein Außenstehender jemals begreifen konnte. Es war die größte Anerkennung, die Steve ihm hätte geben können. Leo war sich bewusst, dass Steve hierfür keinen kleinen Gefallen eingetauscht hatte. Doch dann wurde Leo nachdenklich. Es ging hier nicht um ein paar Kirschtomaten, und einen Banker schickte man nicht als Boten.

„Hat Steve sonst etwas gesagt?“, fragte Leo und glaubte zu wissen, um was Steve ihn bat.

„Ja“, der Fremde kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Er meinte es würde nicht schaden, wenn ich ab und an ein paar Schritte mit dir gehen würde.“

Es war dem Fremden merklich peinlich, das auszusprechen.

Leo nickte vielsagend. „Ja, Steve und ich sind regelmäßig hier durch die Straßen gezogen. Er meinte, es würde ihm helfen sich über einige Dinge klar zu werden. Er schätzt wohl auch meine andere Denkweise und Perspektive.“

Der Fremde schwieg.

„Ob beruflich oder privat.“

Der Mann zuckte beim letzten Wort, blickte kurz in Leos Augen und sah dann weg.

„Mmh.“ Der Mann wurde etwas steif. „Steve hatte so etwas angedeutet.“

Eine peinliche Pause entstand, doch Leo war der letzte, der jemanden zu etwas drängen würde. Leo tat als interessierte er sich für sein Brot und biss ein Ecken ab.

Das riss den Fremden aus seinen Gedanken.

„Würdest du mich denn mitnehmen?“, fragte er, und es kostete ihn einiges an Überwindung.

„Wenn du das möchtest, gern.“

„Ich meine nächsten Donnerstag. Heute ist es schon recht spät.“ Er war wahrscheinlich selbst über seine Frage erschrocken und verdrängte es lieber auf später.

„Ich werde da sein“, antwortete Leo freundlich und wohlgelaunt.

„Wenn es so richtig war, dann mache ich es nochmal so“, zeigte der Mann auf die Tüte in Leos Hand und tat damit als ginge es hierbei um Leo.

„Gerne, ich freue mich.“ Damit drehte sich Leo um, damit die Situation den Mann nicht überforderte.

„Warte“, rief dieser ihn zurück. „Wer bist du eigentlich.“

Leo drehte sich um. „Niemand.“

„Nein, ich meine, wie du heißt.“ Dem Mann war nicht aufgefallen, dass er Leo damit recht gab.

„Niemand“, wiederholte Leo ruhig und mit einem Lächeln im Gesicht.

„Niemand heißt Niemand“, versuchte der Mann zu erklären.

„Nun“, begann Leo und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Wenn ich niemand bin, dann heiße ich auch so.“

Das irritierte den Mann. Sein Blick fiel auf die Tüte Müll, die an Leos Seite baumelte.

„Warum sammelst du eigentlich den Müll anderer Leute auf?“ Der Mann wollte das Gespräch nicht so enden lassen. „Dafür bist du ja gar nicht verantwortlich.“

„Niemand ist dafür verantwortlich!“

Der Mann verengte nachdenklich seine Augen.

„Bis nächsten Donnerstag dann“, verabschiedete sich Leo und zog weiter.

Auch wenn Leo so tat als ginge es ihn nichts an, so beschäftigte es ihn doch noch eine Weile. Wahrscheinlich war Steve gar nicht in den Staaten. Leo hatte gespürt, dass Steve sich verändert hatte, er war ausgeglichener und stellte auch nicht mehr so viele Fragen, deren Antworten er dann schließlich doch selbst finden musste. Leo hatte ihm eigentlich nur geholfen sich selbst zuzuhören.

Vielleicht wollte er nun, dass Leo seinem Freund half, wie zuvor ihm. Vielleicht hatte er sein Leben nun endlich so geändert, wie er es wollte, so wie er es ehrlich wollte.

Leo nahm sich vor in fünf Monaten den Mann zu fragen, was wirklich mit Steve war. Nun da er darüber nachdachte, ergab nur das einen Sinn. Vielleicht würde Steve es ihnen beiden auch in fünf Monaten selbst erzählen. Steve plante gerne weit im Voraus und er hatte eine Schwäche für Geheimnisvolles.

Leos Zeitplan war heute etwas durcheinander geraten, aber das störte ihn nicht sonderlich. Mehr war es seine Nachdenklichkeit, die ihm in letzter Zeit etwas zu schaffen machte. Er hatte in den dreißig Monaten viel gelernt, über sich, über andere Menschen, über das Leben. Er verstand jetzt mehr als je zuvor und doch spürte er eine innere Leere in sich entstehen, aber ganz anders als jene, die er vor seinem Fall in sich getragen hatte. Er wusste nur noch nicht, was das für ihn bedeutete. Aber die Welt war für ihn nicht länger böse und trostlos. Diese Ellbogengesellschaft aus der er geflohen war, war beseelt von empfindsamen, liebenden und gutherzigen Menschen. Im Kollektiv war es ein Zug auf Abwegen, von dem jeder wusste, dass er in die falsche Richtung fuhr, aber den niemand umlenken konnte.

Von diesem Zug war er abgesprungen und tief gestürzt, doch auch wenn er seine Reisefreiheit nun genoss, so war das doch nur der kleinste gemeinsame Nenner, eine Nulllösung, aus der Unfähigkeit geboren er selbst und Teil der Gesellschaft zu sein.

Etwas erschrocken stellte er fest, dass sein Schlendern zu langsam geworden war und er sich nun wirklich beeilen musste. Edith durfte nicht zu lange warten, sonst würde sie Ärger bekommen. Doch zum Glück war sie auch etwas später dran. Sie öffnete das Gitter in dem Moment als Leo um die Ecke bog.

„Ah, da bist du ja!“ Edith war ungewohnt hektisch. „Komm ich habe heute keine Zeit. Friderike wartet drinnen auf mich und die darf hiervon nichts erfahren.“

„Gut, ich beeile mich.“ Es war nicht Leos Art sich von Hektik anstecken zu lassen, aber er konnte schnell sein, wenn es sein musste. Er huschte hinter das Gitter und blickte in die große Mülltonne, die Edith eben geöffnet hatte, um die restlichen Dinge hinein zu tun.

„Es ist heute aber wieder reichlich gedeckt“, stellte Leo in einem freudigen Ton fest, dabei ärgerte es ihn nur.

„Ja, ich meine es nur gut mit dir“, plänkelte Edith. Sie hatte längstens aufgegeben sich darüber aufzuregen und bediente sich abwechselnd an Ironie oder Zynismus um es sich auf Distanz zu halten.

Leo griff gezielt aber wählerisch nach den Lebensmitteln, die er in seine große Tüte verschwinden ließ. Er versuchte seine Nahrung so zu ergänzen, dass sie ausgeglichen war. An Milch, Joghurt und Obst fehlte es wahrlich nicht und selbst die Qualität ließ keine Wünsche offen. Er nahm aber weit mehr als er essen konnte. Edith wurde ungeduldig und so füllte er den Rest etwas wahllos.

„Danke Edith.“ Er streckte eben seinen Kopf aus der Tonne.

„Nichts zu danken. Es will ja eh niemand“, entgegnete Edith mit einem schiefen Lächeln und nahm die vier Euromünzen wie fast jeden Abend entgegen.

Leo zog die Gittertür hinter sich zu und beeilte sich wegzukommen, weil er nicht sehen wollte, was nun geschah. Doch an diesem Abend hatte sich auch Edith beeilt und so hielt sie den geöffneten Behälter bereits über die Tonne. Als Leo das Plätschern hörte drehte er sich unwillkürlich um. Es tat ihm bis ins Innerste weh zu sehen, wie sich die Säure über die noch genießbaren Lebensmittel ergoss. Bei den Gedanken an all die Massen Wohlstandsmüll wurde ihm schlecht. Er ballte seine Hand zur Faust und sah zu, dass er schnell weg kam. Üblicherweise wartete Edith damit bis er weg war, weil sie wusste, dass es ihn aufregte.

Leo kam an diesem Abend viel früher als üblich im Park an, da seine Wut auf sein Tempo abgefärbt hatte. An einer Bank stellte er die Tüte ab und suchte sich das heraus, was er für sich wollte. Dann trat er zwischen eine Baumreihe und ließ die Lichtgrenze hinter sich.

Es brauchte eine Weile bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Eine dichte Eibe bot hier ausreichend Schutz vor Regen und neugierigen Blicken. Er hob die untersten Äste an und verstaute dort seinen Einkauf. Das vom Vortrag war alles weg. Nur ein wenig Verpackung war übrig geblieben. Die anderen mochten ihn nicht wirklich, er war zu anders und sie mieden ihn. Aber die Kost nahmen sie an. Dabei wusste Leo nicht wer alles kam und von dem Versteck wusste. Manchmal wartete er etwas Abseits und schaute dabei zu, nur um sicher zu sein, dass es den Zweck erfüllte, den es sollte. Doch irgendwie waren es oft andere die kamen, als würden die Einzelnen nur unregelmäßig das Versteck aufsuchen.

Das merkte er auch an den Überresten. Mal war es beinahe sauber, mal lagen die Verpackungen im Versteck oder gar verstreut. An diesem Abend hielt es sich in Grenzen, doch es ärgerte ihn dennoch. Er entfernte das wenige an Verpackung und umschritt weiträumig die Eibe und wurde hier und da fündig. Als würde es niemand etwas angehen, blieb der Müll wo er anfiel. Scheinbar spielte es keine Rolle aus welcher Gesellschaftsschicht der Einzelne stammte. Einige Menschen waren wohl nicht für ein gesellschaftliches Leben geeignet. Aber es ist doch unser aller Welt, dachte Leo. Zumindest war es Leos Welt und so bückte er sich und hob eine Dose auf. Sein Ärmel klebte dabei kurz an seiner Jacke.

„Pfff“, stieß er aus. „Jetzt aber wirklich. Harz Nummer 4.“

Er ging zur nächsten Bank und setzte sich hin. Leo fand in den Tiefen seines Rucksackes ein Stofftuch und benetzte es mit Wasser. Aber so leicht wurde er es nicht los. Der Harz blieb an allem haften, bloß nicht an dem Tuch, mit dem er es entfernen wollte. Einmal darin gefangen, wurde man es nicht wieder los. Da würde er wohl Hilfe brauchen. Zum Glück wussten die bei der Reinigung seine Dienste zu schätzen.

Er gab es auf daran herum zu reiben und entschloss Morgen dorthin zu gehen. Resignierend und müde ließ er sich nach hinten sinken und schloss die Augen.

„Leo?“

Leo erschrak. Niemand kannte seinen Namen. Verkrampft richtete er sich auf.

„Leo bist du das?“

Die Stimme kam ihm vertraut vor. Leos Blut schoss ihm durch die Adern. Langsam drehte er sich um.

„Susi?“

Visitenkarte unserer Gesellschaft

Den Zivilisierungsgrad einer Gesellschaft erkennt man daran, welche Spuren diese hinterlässt, wenn sie vorbeizieht. Dann wird ersichtlich, ob es eine Horde Wilde war, oder ob sie sich als zivilisiert bezeichnen darf.
Trotz unserer modernen Gesellschaft bliebt leider der Beweis einer zivilisierten Gesellschaft oftmals aus, wenn wir uns in großen Mengen versammeln. Vielmehr zeigt sich ein Bildnis von Gleichgültigkeit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen gegenüber. In den Müllbergen spiegelt sich unsere Selbstverständlichkeit wieder, mit der wir Ressourcen verschwenden. Selbst die Muße den Abfall zu trennen, um diesen teilweise zu recyceln, wollen wir uns nicht auferlegen. Denn wie es scheint ist Recycling für unser Privatleben als Option vorbehalten, nicht aber als etwas, das wir als gesellschaftliches Ziel erachten. Der Konsum- und Komfortgedanke wird hochgehalten, und Vernunft als spießig verschrien.
Dabei wäre es insbesondere bei Großveranstaltungen sehr einfach, tonnenweise PET-Flaschen gesondert einzusammeln. Vielleicht mag manch einem dies die Mühe nicht wert sein, weil es im Vergleich zu den jährlichen Müllmengen wenig erscheint, aber vor allem hier wird das Bemühen unserer Gesellschaft deutlich. An Orten wie diesen zeigen sich unsere Prioritäten und das Porträt unserer Gesellschaft.
Viele denken, dass der erste Eindruck wichtig ist, aber für eine Zivilisation ist das was bleibt, woran sie gemessen werden kann. Unser Müll ist unsere Visitenkarte, die wir zurücklassen, bevor wir weiter ziehen. Vielleicht ist es nur ein subjektiver Eindruck, aber ich würde mich schämen, einen solchen Eindruck zu hinterlassen. An jedem ist es selbst, zu entscheiden, wie er unsere Visitenkarte einordnen möchte, ob zivilisiert oder als die eines Barbaren, verantwortungsvoll oder als Vandalismus.

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Wir sind so rasch bei der Hand mit Vorurteilen Fremden gegenüber, aber unsere Werte gehen nicht durch Ausländer verloren. Werte entstehen durch unser Handeln. Kultur ist das, was wir leben und nicht nur zuhause, sondern vor allem als Gesellschaft in der Öffentlichkeit.
Bevor wir über andere richten sollten, haben wir noch viel Dreck vor unserer eigenen Haustür, den wir beseitigen müssen.

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Videotrailer – Bücher

Vieles in unserem Leben und in unserer Gesellschaft ist geregelt. Doch welchem Ziel dienen diese Regeln und auf welche Weise beeinflussen sie unser Handeln? Wissen wir um die sozialen Folgen der Regeln oder sprechen wir ihnen einen Selbstzweck zu, weil wir uns an sie gewöhnt haben?

Regeln müssen sein. Aber ebenso müssen Regeln und ihr Wirken verstanden werden. Es ist wichtig, die richtigen Regeln zu finden und diese derart in Kraft zu setzen, dass sie die gewünschte Wirkung entfalten. Dazu ist nicht die Politik gefordert, sondern in erster Linie die Gesellschaft, die durch ihre Wünsche, aber auch ihre Abneigung gegenüber Änderungen das politische Handeln maßgeblich beeinflusst.

Dieses Buch ist eine Textsammlung mit dem Ziel, Gedankenanstöße zu geben, indem es einzelne Bereiche unseres gemeinschaftlichen Lebens beleuchtet und aufzeigt, wo Potenziale vergeudet werden, und Regeln ihr eigentliches Ziel verfehlen. Dazu zählen Automobilverkehr, Bausektor, Steuern und Subventionen und unser Konsumverhalten. Das Werk gibt als solches keine Antworten, es fordert vielmehr auf, den Selbstzweck von Regeln zu leugnen, die Regeln als Richtlinie, aber nicht als Rechtfertigung zu verstehen, aber auch zu akzeptieren, dass Einschränkungen notwendig sind, die uns fragwürdige Rechte wegnehmen und Strafen erforderlich sind, damit diese Regeln eingehalten werden.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir aufhören, unseren Alltag mit Regeln zu pflastern und dem Menschenverstand mehr Gewicht zu kommen lassen.

Infos zum Buch:
94 Seiten
ISBN: 978-3-7418-3379-3
Preis: 8 Euro

Erhältlich bei Epubli oder in jeder gut sortierten Buchhandlung.


Wenn Prospekte gedruckt werden sollen, fällt die Wortwahl oft leicht. Wohlklingende Bezeichnungen umschreiben Konzepte und Wörter wie Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität werden uns beinahe täglich um die Ohren geworfen. Doch ist das, was wir verstehen sollen und oftmals bereitwillig verstehen wollen, auch die Realität? Was steckt hinter diesen und ähnlichen Begriffen? Sind wir kritisch genug und reicht es aus, wenn Andere uns zeigen, dass sie Verantwortung übernehmen? Wo stehen wir in diesem System und was ist unsere Verantwortung? Welche Rolle spielt eigentlich unser Verständnis über die Dinge? Was bedeutet es, bewusst zu leben?

Infos zum Buch:
319 Seiten
ISBN: 978-3-7375-6327-7
Preis: 15 Euro

Auf Anfrage auch gerne als Postversand und ab jetzt auch als Ebook bei eBook.de.


Die ihm an den Kopf geworfenen Formeln lassen den Studenten daran zweifeln, die Welt zu verstehen. Auch deshalb stürzt er sich in das ihm angebotene Abenteuer einer Weltreise. Eine Journalistin samt Millionär verschreiben sich während dessen der zielgerichteten Fortbewegung, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wieso sie dies wollen. Mit jedem Tag den sie mehr scheitern, verblassen die Ausreden und Selbsttäuschungen, die ihren einzigen Antrieb darstellen. Als Begleitung drängen sich die Vorstellungen und Werte einer Gesellschaft auf, die sich bald schon abwendet. Im Gepäck nichts als Illusionen, nicht erfüllbare Erwartungen und dem Fluch ihres bisherigen Lebens. Deshalb kommt es, wie es kommen muss. Sie laufen weg – vor sich selbst und der Welt …

Infos zum Buch:
400 Seiten
ISBN: 978-3-7418-5984-7
Preis: 15 Euro

Erhältlich bei Epubli oder in jeder gut sortierten Buchhandlung.

Spiegelbild der Gesellschaft – Regeln oder Vernunft

Vieles in unserem Leben und in unserer Gesellschaft ist geregelt. Doch welchem Ziel dienen diese Regeln und auf welche Weise beeinflussen sie unser Handeln? Wissen wir um die sozialen Folgen der Regeln oder sprechen wir ihnen einen Selbstzweck zu, weil wir uns an sie gewöhnt haben?

Regeln müssen sein. Aber ebenso müssen Regeln und ihr Wirken verstanden werden. Es ist wichtig, die richtigen Regeln zu finden und diese derart in Kraft zu setzen, dass sie die gewünschte Wirkung entfalten. Dazu ist nicht die Politik gefordert, sondern in erster Linie die Gesellschaft, die durch ihre Wünsche, aber auch ihre Abneigung gegenüber Änderungen das politische Handeln maßgeblich beeinflusst.

Dieses Buch ist eine Textsammlung mit dem Ziel, Gedankenanstöße zu geben, indem es einzelne Bereiche unseres gemeinschaftlichen Lebens beleuchtet und aufzeigt, wo Potenziale vergeudet werden, und Regeln ihr eigentliches Ziel verfehlen. Dazu zählen Automobilverkehr, Bausektor, Steuern und Subventionen und unser Konsumverhalten. Das Werk gibt als solches keine Antworten, es fordert vielmehr auf, den Selbstzweck von Regeln zu leugnen, die Regeln als Richtlinie, aber nicht als Rechtfertigung zu verstehen, aber auch zu akzeptieren, dass Einschränkungen notwendig sind, die uns fragwürdige Rechte wegnehmen und Strafen erforderlich sind, damit diese Regeln eingehalten werden.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir aufhören, unseren Alltag mit Regeln zu pflastern und dem Menschenverstand mehr Gewicht zu kommen lassen.

Infos zum Buch:
94 Seiten
ISBN: 978-3-7418-3379-3
Preis: 8 Euro

Erhältlich bei Epubli oder in jeder gut sortierten Buchhandlung oder als Ebook.

Blickwinkel der Verantwortung

Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht zwangsläufig etwas für andere zu tun. Es bedeutet vielmehr sein eigenes Handeln verantwortungsvoll zu gestalten, sodass dadurch kein anderer Schaden nimmt. Es wäre zwar durchaus vertretbar es auf erste Weise zu betrachten. Doch vielleicht verleiten uns beide Denkweisen dazu, dass wir die gleiche Problematik unterschiedlich verinnerlichen. Die erste Interpretation versteht uns als edle Samariter, die nur an andere denken sollten. Während dessen bedeutet Verantwortung aus der Sicht der zweiten Formulierung, dass wir keine rücksichtslosen Aggressoren und Täter sein sollten. Obgleich die erste Darstellung glorreich wäre und für eine soziale Gesellschaft sprechen würde, sollten wir uns zunächst dennoch der Realität widmen und das nötige und vor allem dringend erforderliche Verständnis von Verantwortung in unser Denken als Gesellschaft aufnehmen.

Bezeichnen wir also Verantwortung als das, dass unsere Handlungen niemand anderen schädigen oder benachteiligen dürfen. Aber was bedeutet es, einen anderen zu schädigen? Vieles, das offensichtlich ist, braucht von uns nicht als Verantwortungsgefühl verstanden zu werden, weil es schlicht verboten ist. Wir dürfen niemanden töten, ihn nicht schlagen und ihm seinen Besitz nicht wegnehmen. Es gibt Menschen, die halten sich an das Gesetz, weil es Gesetz ist, andere handeln entsprechend ihrem Verantwortungsgefühl und würden auch ohne solche Gesetze entsprechend handeln. Aber diese Gesetze oder vielmehr die Verbote betreffen das Unterlassen einer Handlung. Folglich kann dies nicht vollständig die Verantwortung unseres Handelns meinen, weil es von uns nur die Nichthandlung verlangt. Es wäre naiv anzunehmen, dass jede Handlung, die erlaubt ist, frei von Verantwortung wäre. Versuchen wir also die Schädigung eines anderen umfassender zu begreifen, als es das Gesetz als Wahrung von Mindeststandards, vorsieht. Es ist nicht immer leicht den Schaden nachzuempfinden und altruistisches Denken kann nicht vorausgesetzt werden. Deshalb nehmen wir die leichtere und egoistische Denkweise und fragen uns, was es für uns darstellt Schaden zugefügt zu bekommen. Ich vermute, wir dürften uns schnell darüber einig sein, was das bedeutet. Schaden wird einem dann zugefügt, wenn man etwas weggenommen bekommt. Aber was kann das alles sein? Klar Nahrung und Energie. Aber auch Lebensqualität, Gesundheit oder aber Freiheit. Haben sie schon einmal jemandem Schaden zugefügt, in dem sie ihn vergiftet haben? Wenn sie das verneinen, denken sie vermutlich an einen Mord wie in einem Krimi. Schnell ein paar Tropfen Gift ins Glas schütten, wenn keiner es sieht. Das meinte ich aber nicht mit vergiften, wobei es mit dem Nicht-sehen schon sehr nah heran kommt. Unsere Vergiftungen sind meist nicht gezielt und oftmals wissen wir nicht einmal davon – wir sehen es nicht, wir fühlen es nicht und meist gibt es keinen, der sich beklagt. Vor allem der Geschädigte weiß und/oder merkt es nicht, dass er vergiftet wird. Tag für Tag steigt Uran und Arsen aus den Kohlekraftwerken in unsere Atemluft empor. Pestizide und Fassadenschutzmittel gelangen ungesehen in den Wasserkreislauf. Abgase unserer Autos verpesten nicht nur die Umwelt, sondern vor allem uns selbst.

Und genau darum geht es bei der Verantwortung, die uns obliegt. Fast jede unserer Handlungen birgt das Potenzial jemanden oder gar uns selbst zu schädigen. Der größte Teil unseres Konsums ist so, dass einem anderen die Möglichkeit genommen wird, es zu konsumieren. Es wird kaum möglich sein, zu Handeln ohne Schaden zuzufügen. Aber es gibt bei unseren Handlungen stets Alternativen und im schlimmsten Fall ist der Verzicht der Handlung auch eine Alternative.

Damit wir verantwortungsbewusst handeln können ist es unabdingbar, dass wir die Schadenswirkung unserer Handlungen wahrnehmen und uns ihrer bewusst sind. Wer nicht weiß, welche Konsequenz sein Handeln für sich, die anderen und die Umwelt hat, kann trotz gesellschaftlichen Denkens nicht verantwortungsvoll sein und er wird auch nicht die Verantwortung übernehmen, die jedem einzelnen obliegt. Verantwortung ist nicht, was andere tun oder nicht tun. Verantwortung ist das, was der Einzelne tut. Wer unbewusst lebt, lebt verantwortungslos.

Liste – was kann ich tun

Privat

  • Aufladbare Batterien kaufen und verwenden (außer in Uhren, dort ist die Selbstentladung dieser Batterien zu groß und würden ihren Unmut, diese zu nutzen unnötig erhöhen)
  • Fleisch an der Theke, und nicht im Styropor oder Plastik kaufen
  • Recyceltes Papier nutzen / einseitig bedrucktes Papier als Schmierpapier verwenden
  • Briefumschläge ohne Plastikfenster nutzen. Ansonsten erschwert dies das Recycling und es reduziert die erreichbare Qualität
  • Falls vorhanden, schalten sie die Lüftungsanlage ab, wenn die Außentemperatur über 15 °C liegt. Sie verschwendet dann nur noch Strom
  • Leitungswasser trinken anstelle von in Plastikflaschen herbei geschleppes Wasser, das mit Weichmachern angereichert ist. Wir betreiben einen irrwitzigen Aufwand, damit Trinkwasser aus dem Wasserhahn kommt, nur damit es nicht getrunken wird
  • Einen Deckel auf den Topf legen reduziert den Strombedarf um 6% und wahrscheinlich drehen sie die Herdplatte kleiner, weil sie nur dabei sind Wasser zu verdampfen, anstelle Wasser bei circa 100°C zu halten. Wenn ein Gramm Wasser verdunstet, dann entzieht dies dem Wasser so viel Wärme, als würden sie fünf Gramm Wasser von 0°C auf 100°C erwärmen
  • Kaufen sie Qualität statt Quantität; Füllfeder oder Austauschminen statt Wegwerfkugelschreiber
  • kaufen sie bevorzugt von Marken, die nicht an Tieren testen. Das Internet bietet unzählige Möglichkeiten, sich zu informieren.
  • Reagieren sie auf Meldungen aus den Medien. Verursacht ein Tanker eines Ölkonzerns einen Umweltschaden oder ist ein Bohrloch nicht dicht, meiden sie die belieferten Tankstellen – auch wenn es nur kurzfristig ist und andere Tankstellen nicht wirklich besser sind – die Botschaft wird unmissverständlich sein. Wenn ein Markenname genannt wird, wenn eine Kleiderfabrik einstürzt, kaufen sie – auch wenn nur kurzfristig – woanders ihre Kleider. Es muss eine Reaktion geben, ansonsten sind wir mitschuldig
  • Nahrungsmittel auch dann kaufen, wenn sie einen optischen Makel haben. Eingedrückte Verpackungen schädigen nicht zwangsläufig den Inhalt. Äpfel ohne eine ebenmäßige Oberfläche sind immer noch Äpfel. Wer „perfektes Aussehen“ von Obst und Gemüse verlangt, hat von Nahrung keine Ahnung und sollte dringend aus seiner Scheinwelt einmal in die frische Luft. Wenn wir wegsehen, wenn wir einen optischen Mangel erblicken, sorgen wir dafür, dass es weggeschmissen wird. Nicht der Supermarktbetreiber schmeißt Lebensmittel weg – das tut ausschließlich der Käufer!
  • Ein Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Maximalhaltbarkeitsdatum, und Lebensmittel die dieses erst genannte Datum überschritten haben, gehören nicht zwangsläufig in den Müll. Vieles davon könnte gar noch Jahre danach unbedenklich verspeist werden

Unternehmen

  • Austausch der Papierspender im Sanitärbereich gegen Lufttrockner zum Händetrocknen
  • kein fließend Warmwasser zum Händewaschen; Komfortansprüche überdenken
  • Beschwerden über zu kühle Raumtemperaturen ignorieren, wenn derjenige, der sich beschwert nicht angemessen gekleidet ist, ggf. diesen zurecht weisen. Viele Techniker handeln nicht im Interesse des Unternehmens, sondern werden durch die Beschwerden getrieben, irrwitzige Forderungen zu erfüllen, die entgegen der Vernunft sind
  • Organisieren sie interne Seminare, in denen sie die Belegschaft sensibilisieren und motivieren
  • Kommunikation des jährlichen Energieverbrauchs an die Belegschaft und die Öffentlichkeit mit Dokumentation der Entwicklung

Gemeinden

  • Auffangbehälter für Regenwasser neben Schulen oder anderen großen Gebäuden zur Abdeckung der dezentralen Bewässerung von öffentlichen Grünanlagen
  • Aufstellen von öffentlichen „Mülleimern“, die geeignet sind Müll zu trennen
    • Zur Sensibilisierung
    • Reduktion des individuellen Aufwandes verantwortungsbewusst zu handeln
  • Veröffentlichen des aktuellen und historischen Energieverbrauchs aller Gebäude zur Sensibilisierung
  • Gesonderte Abfuhr der Biomasse inklusive Rasenschnitt zur Nutzung in gemeinschaftlichen Biogasanlagen mit Verpflichtung der Landwirte zur Bereitstellung der Gülle
  • Ausschreibung des Heckenschnitts längst Straßen und Wegen an Landwirte und anschließende Aufbereitung des Schnittgutes
  • Organisation von individuellen Wanderungen der Gemeinschaft an definierten Strecken wie Fahrradwegen, oder Landstraßen an autofreien Sonntagen zur individuellen Müllaufsammlung und organisierten Abfuhr
    • Steigerung des Gemeinschaftsgefühls
    • Gesteigerte Wahrnehmung der Bedeutung der eigenen Handlung
    • Vereinfachung der freiwilligen Übernahme von Verantwortung
    • Gesteigertes Bewusstsein der Umweltverschmutzung
    • Möglichkeit zum vereinfachten Erlangen von subjektivem Nutzen
    • Gesteigerte soziale Druck gegen Umweltverschmutzung
    • Verdeutlichung des Unsinns der „einer-alleine-kann-nichts-ändern-Mentalität“

Bewusstes Leben

Eine der größten Herausforderungen beim bewussten Leben ist jene Frage, die die Philosophie seit jeher herumtreibt. Warum leben wir? Gibt es einen Sinn? Und falls nicht, was wollen wir eigentlich vom Leben? Die Schwierigkeit dieser Fragen besteht darin, dass es keine adäquate Antwort gibt. Der Sinn oder Unsinn des Lebens ist eine persönliche Entscheidung und Wahrnehmung. Bewusstes Leben meint in diesem Sinne eigentlich nur, all das wahrzunehmen, was uns wichtig ist und zu wissen, was für uns von Bedeutung ist.
Macht es Sinn das Zimmer aufzuräumen? Eine Diskussion, die unzählige Mütter mit ihren Kindern führen, geführt haben und führen werden. Naturwissenschaftlich betrachtet ist das, was wir oftmals als Ordnung bezeichnen völliger Unfug, denn Ordnung wahren bedeutet einen nicht aufrecht zu haltenden Zustand unter Aufwendung von Energie versuchen aufrecht zu halten. Der Grund, warum Kinder ihre Zimmer aufräumen, liegt nicht darin, dass sie darin einen Sinn sehen. Wenn sie es tun, so fügen sie sich den Eltern und irgendwann wird es zur Gewohnheit – oder eben nicht. Irgendwann hinterfragen wir den Sinn nicht mehr. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Ebenso funktioniert sein Verständnis. Dem Wort des Selbstverständnisses wohnt für mich eine – in meinen Augen belustigende – Wortinterpretation inne. Denn Selbstverständnis bedeutet, dass der Verstand nicht länger an der Gedankenführung beteiligt ist. Wir hinterfragen nicht, was wir für selbstverständlich halten. Geburt – Schule – Job – Haus und Auto – Hochzeit – Kinder – Tod. Wer schreibt unsere Geschichte? Sind wir es selbst oder haben wir Co-Autoren, die wir, dankbar für ihre Unterstützung, gewähren lassen. Sind wir mündig, wenn wir entscheiden, was wir wollen oder wollen wir, was Andere wollen? Sind wir wie Kinder, die sich um einen Ball streiten, dem sie zuvor keine Beachtung geschenkt haben, und jetzt begehren, weil ein Anderer damit spielt? Wen beeindrucken wir, wenn wir ein atemberaubendes Auto kaufen? Vielleicht uns selbst, weil es uns zeigt, dass wir etwas erreicht haben. Doch was ist etwas? Ein Schein? Oder soll es unser Sein sein?
Konsum ist etwas, das uns alle prägt, bewusst oder unbewusst. Es ist eine Größe, die vergleichbar ist und gleichsam einem aufgeräumten Zimmer nicht ganz unähnlich ist. „Räum dein Zimmer auf, stell dir vor es klingelt an der Tür und einer sieht deine Unordnung.“ Wie viel von unserem Konsum gilt den Anderen und wie viel konsumieren wir, weil wir es wollen? Warum verteidigen wir uns, wenn wir etwas kaufen, warum rechtfertigen wir uns, wenn wir etwas nicht kaufen und warum glauben wir etwas haben zu müssen? Warum müssen wir es zeigen, warum wollen wir verglichen werden und am Konsum gemessen werden? Haben wir kein Selbstvertrauen unseren Sinn zu definieren und anzustreben?
Sind es unsere Entscheidungen oder ist es unser Selbstverständnis, welches unseres Verstandes nicht bedarf?

Motivation zum Buch

Wir haben eine Welt mit ihren Potenzialen. Wir haben uns, die Gesellschaft. Doch sind wir uns der Verantwortung bewusst, die uns obliegt? Ich meine nicht die Verantwortung gegenüber der Welt, sondern jene, die wir gegenüber unserer Gesellschaft haben? Wissen wir überhaupt um die Tragweite unserer Handlungen. Ich denke nicht. Ansonsten würde es Sätze wie: „Einer allein kann nichts ändern“ nicht geben. Wir wüssten um unsere Macht und unsere Verantwortung innerhalb unseres System und innerhalb der Gesellschaft.
Unsere Verantwortung beginnt damit ein Bewusstsein zu haben, das soweit reicht, dass wir unsere Welt und uns in ihr wahrnehmen. Wer nicht weiß, was er tut, handelt nicht nur egoitisch, sondern verantwortungslos.
Unsere sich selbst überholende Gesellschaft steigert die Geschwindigkeit ihres Erlebens auf Kosten der Wahrnehmung. Das ist das, was sich ändern muss, wenn für uns ein Platz in dieser Welt bleiben soll. Wir müssen aufhören uns selbst zu belügen, zu betrügen und auszurauben.
Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Nicht, weil ich Antworten auf Fragen geben möchte, sondern um aufzufordern kritischer zu denken, zu leben und Fragen zu stellen. Deshalb versuche ich den Leser an der Hand zu nehmen und an den Antworten vorbei zu führen, die Andere uns geben und unsglauben lassen, dass es die Fragen waren, die wir beantwortet haben wollten. Was bedeuten diese Antworten und was würde es bedeuten entsprechend zu handeln? Was sind unsere Potenziale und wie verschwenden wir diese. Wie kommt es, dass unsere Bewertungsmethoden uns belügen? Liegt es vielleicht daran, dass wir nach Antworten gesucht haben, die wir hören wollten und haben dementsprechend die Fragen gestellt? Was ist eigentlich unser Nutzen, was ist, was wir wollen und widerum, was bedeutet es, wenn wir konsequent entsprechend handeln. Ist es frei nach dem Motto: „Es ist egal, wenn wir arm sind. Hauptsache wir haben Geld“?

Sophies Referat

Sophies Handy vibrierte auf dem Nachhauseweg. Anna wollte wissen, wann sie sich treffen könnten. Was das bringen sollte wusste Sophie nicht. Schließlich hatten beide keine Ahnung, wie sie das angehen sollten. Genervt steckte sie ihr Handy weg, ohne zu antworten. Das konnte auch warten. Schließlich hatten sie jetzt erst einmal Ferien. Sie war immer noch wütend, dass ihr Geografielehrer ihnen dieses Referat in der letzten Stunde aufgebrummt hatte, um ihnen die Ferien zu vermiesen. Typisch Lehrer, als würden sie nicht wissen, dass Ferien auch Ferien sein sollten.
Sie kam rein und ging gleich in ihr Zimmer und verstaute sorgsam ihre Schultasche unter dem Schreibtisch, bevor sie in die Küche ging.
„Na mein Schatz“ Ihre Mutter war gut gelaunt und kochte Sophies Leibgericht.
Das munterte sie ein wenig auf. Mit einem hörbaren Seufzen ließ sie sich auf der Eckbank am Küchentisch nieder.
Ihre Mutter lächelte ihr zu und nickte in Richtung Schlafzimmer. Sophie schüttelte den Kopf und machte ihrem Frust Luft.
„Nicht, dass ich aus Versehen an Schule denken muss“, meinte Sophie und lachte gespielt gequält. Normalerweise landete ihr Rücksack unweit der Haustür in einem Eck, wenn sie aus der Schule kam.
„Hast ja jetzt auch Ferien“, besänftigte ihre Mutter Sophie.
„Sag das mal meinem Lehrer!“, antwortete sie und ließ ihren Ärger mit einem „mhh lecker“ verfliegen, als ihre Mutter zwei Teller Spaghetti auftischte und sich neben sie setzte.
Mit vollem Mund fragte sie ihre Mutter aus, was sie alles im Urlaub machen konnten.
Morgen früh war Abfahrt. Sie hatte aber noch Einiges zu packen. Dabei galt es zwei Probleme gleichzeitig zu lösen – Auswahl treffen und alles in den Koffer bekommen. Wer auch immer dieses Universum erschaffen hatte, dachte Sophie, hätte für dieses Dilemma eine Lösung vorsehen sollen.
Gegen sieben kämpfte sie sich mit ihrem Koffer die Treppe runter. Die letzten fünf Stufen ging es schneller als beabsichtigt und sie war erleichtert, als der Koffer nicht aufsprang, als dieser unten landete. Es hatte einiges an Gewalt gekostet ihn zu schließen.
„Das klingt gefährlich“, lachte ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Lebst du noch?“
Sophie rollte den Koffer in den Flur, bevor sie zu ihm ging und sich der Länge nach auf die Couch legte. Sie gab ein erschöpftes Seufzen von sich, während ihr Vater im Sessel daneben ihr liebevoll den Rücken kraulte und gleichzeitig fernsah.
„Man hat es schon schwer“, stichelte ihr Vater.
Brummend gab sie ihm recht.
Eine Weile sprach niemand. Ihr Vater schaute die Nachrichten, während Sophie eigenen Gedanken nachging. Für die Probleme der Welt hatte sie wenig übrig. Die Meisten davon waren ohnehin menschgemacht und Sophie hatte noch nie verstehen können, wieso die Menschen so selten dämlich sein konnten.
Ohne besonderes Interesse an dem, was sie sah, blickte sie dennoch in Richtung der flimmernden Bilder. Sie sah Bilder von Krieg und Zerstörung, Politiker die andere beschimpften böse zu sein und Opfer, die nicht verstanden, was vor sich ging – Bilder, wie man sie jeden Tag sah. Eben nichts was wirklich neu war.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke, als sie einen dicken Mann sprechen sah, der den Eindruck erweckte wichtig zu sein.
„Papa?“ Vielleicht konnte er ihr helfen, schließlich kannte er sich mit vielen Dingen aus, die ihr nicht wirklich sinnvoll erschienen.
„Mein Kind?“ Ihn interessierten die Nachrichten heute auch nicht, sonst hätte er den Kopf geschüttelt.
„Was ist Ökodumping?“
Ihr Vater war verwirrt. Er blickte sie verwundert an und wandte sich dann einige Augenblicke dem Fernseher zu, als könnte er sich daran erinnern, worauf Sophie ihre Frage bezog. Ihm fiel aber kein Beitrag ein, der damit zu tun hatte.
„Wieso? Was soll damit sein?“
„Ach, Anna und ich sollen ein Referat darüber halten.“
Ihr Vater sah sie überrascht an.
Sie zuckte mit der Schulter.
„Ich glaube meinem Lehrer war langweilig.“
Er lachte amüsiert aber leise, um Sophie nicht zu kränken.
Er überlegte eine Weile. „Das ist eigentlich einfach.“ Er suchte nach einem Beispiel, mit dem er es erklären konnte.
„Aber das ist ein sehr ernstes Problem.“ Er machte den Ton vom Fernseher aus. Es machte ihm Freude, wenn seine kleine Prinzessin sich für solche Dinge interessierte. Früher hatte sie ihn immer mit Fragen gelöchert, doch in letzter Zeit hatte das nachgelassen.
Umso mehr gab er sich nun Mühe, es ihr verständlich zu machen.
„Du weißt, was Dumpingpreise sind?“
„Das ist, wenn etwas ganz billig ist oder?!“
„Genau. Das ist, wenn ein Händler versucht den anderen im Preis zu unterbieten, damit er die Produkte verkauft und nicht der Andere.“
„Aber dann kann der ja auch den Preis senken?“
„Genau und schon sind wir in einem Teufelskreislauf, wenn einer unbedingt viel verkaufen möchte. Er senkt den Preis, der andere zieht nach, dann senkt der eine wieder den Preis.“
„Aber das ist doch gut, dann bekommen wir die Sachen billig.“
„Ja, aber das ist nicht immer gut. Wir bekommen nämlich auch billige Sachen.“
„Sag ich ja und das ist doch gut.“
„Wie weit wird der Preis denn sinken?“
„Soweit wie es geht“, lachte Sophie und freute sich, während sie sich das gute Geschäft vorstellte, das sie machte, wenn sie ein Schnäppchen fand.
„Nun, erst einmal soweit bis einer nicht billiger produzieren kann. Das stimmt.“ Er sah seine Tochter nickend an. Dann wartete er, bis ihr Lachen nicht mehr ganz so heiter war und sie bereit war, darüber nachzudenken.
„Dann steht der eine mit dem höheren Preis vor einem Problem“, fuhr ihr Vater fort.
Sophie überlegte und versuchte zu verstehen, warum ihr Vater das nicht lustig fand. Sie versuchte sich in die Lage des Verkäufers zu versetzen.
„Er verkauft dann nichts und geht pleite“, meinte Sophie und zog die Stirn kraus.
„Oder?“ Ihr Vater ermutigte sie, den Gedanken zu Ende zu führen.
„Oder er versucht auch billiger zu produzieren.“
„Und wie soll das gehen?“
Sophie zuckte mit der Schulter und sah ihren Vater an.
Doch dieser wollte, dass seine Tochter es selbst aussprach. In ihrem Unterbewusstsein wusste sie es längst.
„Er wird billigere Materialien nehmen.“
Ihr Vater nicht zustimmend.
„Schlechtere Qualität?!“ Sophie sprach es leicht gequält aus.
„Und der Andere dann?“
„Der auch?“
„Giftige Stoffe?“, fragte ihr Vater.
„Nein!“, antwortete Sophie, ohne zu zögern, und war entrüstet. „Das darf er nicht, dafür gibt es Gesetze.“
„Darf er denn die Umwelt verschmutzen, wenn er dadurch billiger produzieren kann?“, fragte ihr Vater weiter.
„Nein, auch dafür gibt es Gesetze!“ Sophie fragte sich, wie ihr Vater nur auf so merkwürdige Ideen kam.
„Gibt es die?“
„Natürlich! Das muss so sein.“ Sie richtete ihren Oberkörper auf und blickte ihren Vater finster an.
„Viele Dinge müssen so sein. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie so sind.“ Ihr Vater sprach beschwichtigend und fuhr ihr liebevoll über den Rücken.
„Ja, aber“ Sophie regte sich auf.
„Eigentlich hast du jetzt schon verstanden, was Ökodumping ist.“
Sophie antwortete nicht und zog ihren Mund kraus.
„Einzelne Firmen können nicht alles frei entscheiden, was sie wollen. Sie können sich an Gesetze halten oder die Anforderung sogar übertreffen, wenn sie es sich leisten können und Kunden ihre Produkte auch kaufen, wenn sie teurer sind. Wenn sie aber gegen Gesetze verstoßen um ihre Kosten zu drücken, dann müssen sie mit Strafen rechnen.
Einige Länder haben sich aber dazu entschlossen keine oder zu wenige Gesetze einzuführen, die die Umwelt schützen. Das gibt den inländischen Unternehmen den Vorteil kostengünstiger zu produzieren und sich dadurch international mit ihren Produkten aufgrund der geringeren Preise durchsetzen zu können.“
„Aber warum machen die das? Das zerstört doch die Umwelt!“ Sophie wollte das nicht verstehen.
„Das machen auch nur Entwicklungsländer, denen die Zukunft weit weniger wichtig ist. Sie wollen jetzt Geld verdienen. Dass Menschen deswegen vergiftet werden, ist denen egal – Geld regiert die Welt, das musst du dir merken.“
Er strich ihr weiter über den Rücken, als könnte das die Wahrheit angenehmer erscheinen lassen.
„Aber das ist ja asozial! Scheiß Geld!“
„Das wird sich legen. Lass die Länder sich erst einmal entwickeln, dann werden sie auch sie fortschrittlich denken wie wir.“
Er lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ökodumping ist ein Preiskampf, der auf Kosten der Natur durchgeführt wird.“ Er wollte seine Antwort abschließen. „Wenn du magst, dann helfe ich euch, wenn du und“ er machte eine unbeholfene Bewegung mit der Hand.
„Anna“, vervollständigte Sophie.
„… und Anna am Referat arbeitet. Dumping kann eigentlich auf Kosten von vielen Dingen betrieben werden. Auf Kosten der Umwelt, der Gesundheit oder von Menschenrechten. Aber genau so kann es auf Kosten zukünftiger Generationen geschehen, wenn deren Potenziale zerstört werden.“
Sophie blickte finster drein und schaute dem Fernsehsprecher zu, wie er als Stummfilm das Wetter präsentierte – heiter bis bewölkt.
„Hab ich dir weiter geholfen?“
„Irgendwie schon“, brummte sie und sah in Gedanken Giftfässer im Wasser schwimmen.
Ihr Vater fuhr ihr über den Kopf und zerzauste ihr Haar, dann stand er auf.
„So jetzt muss ich aber. Ich will noch schnell tanken fahren. Morgen geht es ab in den Urlaub.“
„Wir können ja auch unterwegs tanken“, meinte Sophie leicht abwesend.
„Ich bin doch nicht dumm und tanke in Deutschland“, lachte er vergnügt. „Außerdem brauch ich noch eine Stange Zigaretten. Ein Glück sind die nicht auch noch teurer geworden.“