Mathias ließ die Tür zufallen. Das leise Plopgeräusch ließ einige Köpfe sich umdrehen, doch das Interesse war Gewohnheit. Er schaffte sich mit einem Umblicken einen knappen Überblick, erkannte jedoch niemanden. Das Wirtshaus war für einen anbrechenden Abend gut besucht. Er ging tiefer in den langgezogenen Raum und nahm direkt an der Theke Platz. Er ließ zwei Hocker neben dem einzigen Gast an der Theke frei. Es war ein älterer Herr, der sein Bier zur Hälfte geleert hatte und nun an die Wand stierte.
Mathias grüßte, so dass der Mann antworten konnte, wenn er wollte, ohne aber, dass er sich angesprochen fühlen musste. Hinter der Theke stand niemand und seine Begrüßung blieb unbeantwortet.
Mathias drehte der Theke den Rücken zu und stützte auf ihr einen Ellbogen ab. Die Beine angewinkelt, überprüfte er, ob er nicht doch ein bekanntes Gesicht übersehen hatte. Sein Blick blieb bei vier Halbwüchsigen hängen. Sie spielten Karten und kommentierten jede Pause eines Spielers mit übertriebenen Interpretationen oder Gespött.
„Na was darf es sein?“ Die Wirtin kam mit einem Tablett leerer Gläser zurück. Ihre Stimme klang entspannt und freundlich.
„Eine heiße Schokolade bitte.“ Mit seiner Antwort drehte er sich zur Theke um und folgte ihr mit seinem Blick.
„Gerne.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und nahm eine Tasse aus dem Regal. Es zischte als sie die Maschine bediente. „Sahne?“ Ein Seitenblick erkannte sein Nicken. „Neu in der Gegend?“
„Ist das so offensichtlich?“
„Neues Gesicht.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Und mit der neuen Siedlung direkt nebenan nicht unwahrscheinlich.“
„Sind wohl viele Stammgäste hier?“
„Man kennt sich.“ Ihr Lachen war hörbar.
„Auf der Durchreise“, blieb er seine Antwort nicht schuldig.
„Na dann herzlich willkommen und schön, dass du hier Halt gemacht hast.“ Sie reichte ihm die Tasse über den Tresen.
„Danke!“ Mathias betrachtete die mit Kakao überzogene Sahnehaube. Er griff nach der Tasse und zog seine Hand zurück.
„Habe ich doch richtig verstanden.“ Der Fremde an der Theke sprach in Richtung des Ankömmlings.
„Wie bitte?“, fragte Mathias verwirrt. Ihm fiel nun erst auf, dass er abgemessen wurde.
„Einen Kakao!“
„Ja“, gab Mathias knapp zurück. Ein Augenrollen sparte er sich. Stattdessen nahm er die beigelegte Schokoladentafel in beide Hände und wendete diese hin und her, als bedürfte es einer ausgiebigen Lektüre der Verpackung.
„An einem Freitagabend.“ Die Anklage ging in ihre zweite Runde.
„Ja.“ Das Bekenntnis war abgehackt und Mathias hob nicht einmal den Blick.
Der Mann drehte sein Bierglas, als könnte es ihm eine Lösung für diesen komplizierten Fall liefern.
Eine Weile geschah nichts. Mathias drehte der Theke abermals den Rücken zu. Die vier Pokerspieler zeigten mit lebhaften Gesichtsverzerrungen ihre fehlende Übung, was ihrer Freude an der Sache aber keinen Abbruch tat.
„Leute wie du sind daran schuld, dass es bald keine Schenke mehr gibt.“ Sein Ton war nüchterner als er selbst.
Mathias nickte verzögert und wandte seinen Blick nur kurz in Richtung des Fremden. Die Argumentationsstruktur war zu überwältigend, als dass er darauf eine Antwort gefunden hätte.
„Scheint dir egal zu sein.“ Der Ton wurde rauer. So viel Unverfrorenheit war der Fremde wohl nicht gewohnt.
Mathias nahm sich nun mehr Zeit, sich den Mann anzusehen. Er, sowie seine Kleidung sahen gepflegt aus. Sein einfach gestricktes Gemüt war aber ebenso einfach zu erkennen. Der Mann gehörte wohl zu der Gattung Mensch, die sich gerne über die Probleme aufregte, die andere nicht als solche wahrnahmen.
„Mit Nichten.“ Mathias nahm sich des Dialogs nun beherzter an. Der Mann blickte irritiert in sein Glas. Mit einem Bekenntnis hatte er wohl nicht gerechnet. „Aber ich bin hier!“ Mathias stellte die Wahrnehmungsfähigkeit des Mannes auf die Probe.
„Und?“
Mathias ließ dem defensivem Gegenangriff Zeit zu wirken. „Wenn ich am Artensterben der Gasthäuser schuld sein sollte, wäre es dann nicht plausibler, ich wäre nicht hier?“
Dieser Satz musste verdaut werden. Der Mann öffnete reflexartig den Mund, doch sein Kopf war noch mit anderen Dingen beschäftigt. Er schloss den Mund, senkte ratsuchend seinen Blick zum Glas und vermutete nach einer Weile die Antwort am Boden desselben. Kurzerhand schüttete er sich gekonnt den störenden Inhalt ins Gesicht, damit des Rätsels Lösung nichts mehr im Wege stand.
„Da kommt keine gute Stimmung auf“, protestierte er und sah Mathias verständnislos an.
Diesmal musste Mathias sein Getränk begutachten, damit er nichts aussprach, was er gleich bereuen würde.
„Heiße Schokolade“, lachte der Mann leise. „Was ist das schon?“ Er kippte sein Glas und betrachtete, wie sich eine kleine Pfütze Flüssigkeit sammelte. „Das bringt doch nichts.“
Mathias blieb viel zu interpretieren, da der Mann offenbar Gedankensprünge vollzog, denen er selbst verbal nicht gewachsen war.
„Es wärmt und bringt eine angenehme Behaglichkeit mit sich.“ Mathias sah den Mann an, der sich durch seine ausstrahlende Ruhe irritiert zeigte. „Es stimmt mich harmonisch und ausgeglichen“, legte Mathias nach.
„Pff“, entfuhr dem Mann ein Zischen. „Langweilig und spießig!“ Der Mann drehte sich nun vollständig in Mathias‘ Richtung. Es war ein offener Angriff und der Blick des Mannes verriet, dass er siegesgewiss zusehen wollte, wie Mathias sich nicht mehr herausreden konnte und seine Schuld in vollen Zügen eingestand.
„Mag sein.“ Mathias zuckte gleichgültig mit den Schultern, gönnte dem Mann dieses Argument, aber verwehrte ihm die Kapitulation.
„Pff“, war es erneut zu hören und der Mann ließ seine Knie unter der Theke verschwinden.
Eine Weile herrschte Ruhe. Mathias nahm sich des beigelegten Kekses an, doch er spürte eine wachsende Anspannung. Er stand weiterhin unter Beobachtung und ein gelegentliches Schnaufen und Kopfschütteln neben ihm, ließ einen weiteren Angriff vermuten.
„Was machst du eigentlich?“
„Ich arbeite in der Logistikbranche. Ich entwickle Optimierungen für den Versandhandel.“
Erneut ein Zischen. „Früher ging man noch in ein Geschäft einkaufen!“ Er atmete tief ein und aus. „Machst du die Läden auch noch kaputt?“ Er nutzte die Gelegenheit und bestellte sich bei der zurückkehrenden Wirtin ein weiteres Bier. Ein Seitenblick trug die Botschaft an Mathias heran, dass man so ein Wirtshaus am Leben hielt.
„Ich meinte, was du hier machst?“, sprach er weiter als die Wirtin fort war.
„Ich warte auf meine Frau.“ Er sah vor sich auf die Theke und überlegte, ob er erwähnen sollte, dass er eine heiße Schokolade trank, doch er entschied, dass dies des Guten zu viel wäre. Der Mann sah ihn weiter an. Das war ihm wohl nicht Antwort genug. „Sie geht noch unseren Sohn in den Kinderhort abholen, dann fahren wir gemeinsam zu ihren Eltern.“
„Früher blieben Frauen noch bei den Kindern zuhause!“
Mathias grinste unwillkürlich, versuchte es aber einzudämmen. „Oh“, gönnte er sich einen weiteren Anklagepunkt. „Ich arbeite derzeit nur 50 %, bin ein Jahr im Vaterschaftsurlaub.“
Einen Moment lang fürchtete Mathias beim Mann eine lebensbeendende Schnappatmung, doch zu seiner Erleichterung entlud es sich in einem langen Zischen. Der Richter war offensichtlich von den Taten seines Angeklagten überwältigt.
„Grundgütiger! Wo führt das hin?“, erlaubte sich der Mann ein Urteil.
„Noch einen heißen Kakao bitte.“ Mathias bot dem Mann und sich eine Verschnaufpause und zog mit dessen Konsum wieder gleich, auch wenn es bedeutete, dass er einen über den Durst trank.
„Gerne“, erwiderte die Wirtin mit einem freundlichen Lächeln. „Es ist heute aber auch ein schroffer Wind draußen.“
„Als ich vorhin auf den Bus wartete, hatte ich noch das Glück im Regen zu stehen“, lachte Mathias auf. „Da gefällt es mir hier drinnen deutlich besser.“
Die Wirtin schloss kurz beide Augen, um ihm ihr Mitgefühl auszudrücken. Sie reichte ihm die Tasse, belud ihr Tablett mit weiteren Bestellungen und entschwand wenig später ins wachsende Getümmel.
„Na dann könntest du aber wirklich etwas trinken!“
Mathias runzelte die Stirn. Er verstand den Sinn, aber den Zusammenhang nicht.
„Du bist mit dem Bus unterwegs!“ Der Mann verlor allmählich die Geduld.
„Könnte ich.“ Seine erste Reaktion gefiel ihm nicht. Er schmunzelte und hob seine Tasse. „Tue ich doch auch“, legte er nach und nippte daran. Es versenkte ihm die Zungenspitze, doch er ließ sich nichts anmerken. Ein Triumph erforderte bisweilen Opfer.
Der Mann griff beherzt in die Schale mit Erdnüssen, die er sich neben sein Glas herangezogen hatte. Er sah zur Decke, während er sich nach und nach die Nüsse in den Mund schob.
Mathias spielte mit der Verpackung des neues Stücks Schokolade. Rache ist süß, dachte er und war gespannt auf den nächsten Einfall des Mannes.
Doch sein Handy lenkte ihn ab. Seine Frau schrieb ihm, sie hatte eine Panne und nun würden ihre Eltern sie abholen. Sie schrieben kurz und er wusste, er würde noch länger hierbleiben.
„Früher war alles besser!“
Mathias nickte anerkennend. Das Plädoyer war makellos und bot keinen Angriffspunkt.
„Ach komm schon“, der Mann war feinfühlig genug, um zu erkennen, dass es dem Zuspruch an Ernsthaftigkeit fehlte.
„Was denn?“ Mathias biss ein kleines Stück Schokolade ab. Es war Zeit für eine Gegenwehr.
„Halt mit den Frauen!“ Er verstand nicht, warum die Jugend immer so schwer von Begriff war. „Sie blieben zu Hause, wir gingen arbeiten. Da waren die Rollen noch klar.“
„Meine Frau hat studiert.“ Mathias sparte sich Munition und stocherte mit kleinen Provokationen.
„Ebenso ein Firlefanz.“
„Sie ist Ärztin!“
„Meinetwegen“, brummte der Mann, da es nicht verlief, wie gedacht. „Aber falsch ist es trotzdem. Es ist keiner mehr bei den Kindern und man sieht, wo das hinführt.“
„Da hast du allerdings recht!“ Mathias genoss die Verwirrung im Gesicht seines Gegenübers. Die Kehrtwende brachte ihn aus der Bahn. Er nippte an seinem Glas.
„Siehst du, früher war alles besser. Da ist die Frau zu Hause geblieben!“
„Das Problem war falsch gelöst.“
„Wie?“ Das Gesicht des Mannes wäre ein Foto wert gewesen.
„Die soziale Frau blieb zu Hause beim Kind, das ist gut für das Kind. Gleichzeitig ging der sozial schwache und entbehrliche Mann zu Arbeit.“
„Wieso sozial schwach?“ Der Mann regte sich auf und war davon überfordert in die Defensive gerutscht zu sein.
„Weil er ungeübt blieb. Männer konnten keine Gefühle zeigen und auch nicht mit Gefühlsregungen anderer umgehen. Das ist nicht besser.“
„Aber die Frau war bei den Kindern!“ Der Mann ärgerte sich über die Dummheit der Jugend.
„Ja und der Mann war überflüssig.“
„Er hat das Geld verdient!“
„Wenn das das stärkste Argument gegen überflüssig ist, dann ist das recht asozial.“
„Verdammt so war das eben.“
„Und das war nicht gut.“ Mathias blieb ruhig. Der Mann war an der Schwelle zu einem Tobsuchtanfall, doch seine gegenwärtige Überforderung mit der Entwicklung, ließ ihn nur hilflos wirken.
„Dass, die Kinder die meiste Zeit ohne Elternteil verbringen müssen, ist auch nicht gut.“ Mathias lenkte ein und gewährte dem Mann eine Verschnaufpause.
„Wir müssen alle weniger arbeiten.“
„Herr je.“ Der Mann wurde sich seiner Verpflichtung als Richter erneut bewusst. „Die Arbeit muss gemacht werden. Noch so eine Krankheit der Jugend!“
„Die Arbeit, die gemacht werden muss, muss gemacht werden.“ Mathias nickte zustimmend und gönnte sich einen Schluck des nun angenehm warmen Kakaos. „Die andere aber nicht.“
„Was soll das denn nun wieder heißen?“
„Dass wir unsere Arbeitswut zügeln müssen. Wenn es keinen Sinn für die Gesellschaft macht, dass eine Arbeit überhaupt oder von einem Menschen erledigt wird, dann muss sie weg oder von Maschinen gemacht werden.“
„Du machst alles kaputt! Hör auf damit.“
„Was mache ich kaputt?“ Der Mann sollte es aussprechen.
„Arbeitsplätze!“
„Und warum ist das wichtig?“ Mathias war die Ruhe in Person.
„Sie geben uns Arbeit.“
„Na toll, und deshalb ist keiner bei den Kindern. Deshalb hat keiner mehr Zeit und Lust sich in ein Lokal zu setzen oder sich für irgendetwas Zeit zu nehmen. Gemeinschaftliche Organisationen und traditionelle Vereine finden keine Mitglieder mehr.“ Mathias nahm einen tiefen Schluck und sah den Mann direkt in die Augen. „Wir müssen gesellschaftliches Leben schützen, soziales Miteinander retten, aber nicht Arbeitsplätze!“
Der Mann sah ihn mit großen Augen an. Er kratzte sich erst am Kopf, drehte sich zur Theke um und schaufelte die Schale mit Nüssen leer.
„Ich hatte recht.“ Er sprach vor sich hin. „Kakao!“, lachte er leise auf. „Da kommt keine gute Stimmung auf!“
In allen Punkten angeklagt und verurteilt blieb Mathias vor seinem Kakao sitzen und trank ihn in kleinen Schlucken. Sein Handy vibrierte. Seine Frau war bereits in ihrem Elternhaus. Vater kommt dich abholen, schrieb sie noch.
Etliche Minuten später klopfte jemand Mathias auf die Schulter.
„Nein bleib sitzen“, sprach sein Schwiegervater. „Jetzt trinke ich auch noch etwas.“ Er war wie immer guter Laune. „Die Zündkerze war verdreckt.“ Das erklärte sein rasches Erscheinen.
„Ein Bier, bitte“, gab er seine Bestellung auf, als die Wirtin ihn mit einem Nicken willkommen hieß.
„Vernünftiger Gedanke“, schloss sich der Mann in der Ecke der Bestellung an und ließ einen ruckartigen Seitenblick auf Mathias fallen.
Mathias‘ Schwiegervater prostete ihm zu und vertiefte sich mit Mathias in ein Gespräch. Am Wochenende wollten sie mit dem Bau der Schaukel beginnen. Doch das war dem stolzen Großvater nicht genug, er erwog auch ein Baumhaus im mächtigen Nussbaum und brauchte Mathias, um seine Tochter zu überzeugen.
„Da wird Sybille nicht nein sagen können“, lachte der Schwiegervater tatenfreudig auf und trank seinen letzten Schluck Bier.
„Früher war alles besser, nicht wahr?“ Der Mann in der Ecke mischte sich in ihr Gespräch ein. Mathias wusste, dass er die ganze Zeit zugehört hatte.
Sein Schwiegervater zögerte eine Sekunde beim Absetzen des Glases. Sein erstarrtes Gesicht erhellte sich von Neuem.
„Da haben sie völlig recht“, er sprach aus voller Brust und erweckte das erste Mal an diesem Abend ein Strahlen im Gesicht des Mannes. Abermals warf dieser Mathias einen Blick zu, doch bevor er etwas sagen konnte, stand Mathias‘ Schwiegervater auf. „Früher waren die Menschen noch zufrieden mit dem, was sie hatten. Da gab es keine Nörgler.“ Er beglich die Zeche großzügig und nickte der Wirtin dankend zu, bevor sie gemeinsam in den Abend hinausgingen.