Morgen gibt es auch ein Morgen

„Morgen!“, raunte er zum Abschied und ließ die Tür zur Garage zufallen. Der Knall verriet ihm, dass er doch etwas zuviel Schwung in seine Bewegung gelegt hatte. Als er ins Auto stieg, griff er mit beiden Händen fest ans Steuerrad. Dass sie ihn einfach nicht verstand. Er versuchte sich zu beruhigen, bevor er die Autotür nun leiser schloss.

Er schüttelte den Kopf um diesen frei zu bekommen. Dabei ging es ihnen doch gut. Da musste man nun mal auch Opfer bringen. Er war schon zwei Straßen weiter als er merkte, dass er mit den Gedanken noch immer Zuhause war. Zum Glück klingelte sein Handy. Es war Tobias. Sie telefonierten meistens so früh. So war die Zeit im Auto nicht verloren, und so früh waren sie noch ungestört. Später im Büro würden alle gleichzeitig auf ihn eintrommeln. Alle wollten sie Entscheidungen von ihm. Es war bisweilen anstrengend, doch er genoss die Arbeit, und die Verantwortung. Hier hatte er das Gefühl wirklich gebraucht zu werden und jeder hörte ihm zu. Nicht wie seine Susanne, seine Frau, die ihn scheinbar gar nicht verstand. Ach, zum Teufel, wo glaubte sie dann, dass all das Geld herkam. Da musste man auch mal Samstags ins Büro.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tobias über die Freisprechanlage. „Du klingst angespannt.“

„Ach“, stöhnte Eric und klopfte auf das Steuerrad. „Nein, alles in Ordnung.“ Er musste sich zusammenreißen. „Was meinte der Engländer dann? War er einverstanden?“

Eine Weile später saß er an seinem Schreibtisch. Wie er hierher gekommen war, konnte er nicht mehr recht sagen. Heute störte ihn auch die Stille im Büro. An einem Wochentag wäre ihm das nicht passiert, dass er so zerstreut war. Dabei wollte er doch gerade heute so viel Liegengebliebenes aufarbeiten. Stattdessen erwischte er sich dabei, wie er Löcher in die Luft starrte. Der Haufen vor ihm wuchs von Woche zu Woche, dabei war vieles nur Fleißarbeit, nichts von dem, was ihn wirklich reizte. Aber irgendwie fand die Arbeit nur ihn. Er verstand auch nicht, wie die anderen Freitags schon so früh gehen konnten, manche gar schon vor 16 Uhr.

Dieser neumodische Kram von flexiblen Arbeitszeiten hatte ihm rein gar nichts gebracht. Eher im Gegenteil, und zu allem Überfluss war Susanne jetzt noch hinter ihm her, er solle sich ein Beispiel daran nehmen. Was dachten sich denn die Leute auf einmal alle. Das Leben besteht nun mal nicht nur aus Freizeit.

Abermals klingelte sein Handy. „Ja, warten Sie, ich komme gleich runter.“ Samstags schloss die Tür immer automatisch, so dass er seine Bestellung selbst nach unten holen gehen musste.
„Danke.“ Der Lieferjunge freute sich über das satte Trinkgeld. „Guten Appetit!“, sagte er noch, als wäre er Kellner in einem Restaurant. Dabei war es nur Penne Carbonara in einer Nudelbox. Bereits im Fahrstuhl nahm er die Plastikgabel und wollte anfangen, doch er verbrannte sich die Zunge. „Verdammt“, fluchte er ungehört. Der Italiener war gleich nebenan und seine Ungeduld war ihm hier schon öfters zum Verhängnis geworden. Er hätte es also wissen müssen. Mit dieser Wut auf sich selbst stellte er die Packung energiegeladen auf den Tisch, und bearbeitete noch schnell ein paar Formulare und stocherte ab und an nach seinen Nudeln.

„Ach, Scheiße!“ Eine Nudel klebte auf einem Dokument als er es weglegen wollte. „Warum hast du dir nicht ein anderes Blatt aussuchen können?“, schimpfte er über das irrationale Benehmen der Nudel. Wütend knüllte er das Papier zusammen und visierte den sich füllenden Papierkorb an. Doch auch hierbei wollte sich an diesem Tag kein Erfolg einstellen.

„Pfff“, stöhnte er und ließ sich in seinem Stuhl nach hinten fallen. Mit im Nacken verschränkten Händen legte er seinen Kopf schräg und ließ seinen Blick nach draußen gleiten. Der Frühsommer zeigte sich von seiner strahlend blauen Seite, als wollte er ihn für seinen Trübsal verspotten. „Ach“, ärgerte er sich. „Das wird heute nichts.“ Er wollte nicht länger wütend auf sich sein. „Vielleicht ist das auch ein Zeichen“, gab er sich mit dem Wetter versöhnlich. Er räumte die Stapel gerade. Wenigstens sein Schreibtisch sollte heute ordentlich sein. Dann stand er auf.

Doch als er draußen ankam, blieb er hilflos stehen. Einfach so nach Hause gehen konnte er auch nicht. Eigentlich hatte er Susanne versprochen heute mit ihr Picknicken zu gehen. Auch eine von diesen irrationalen Unternehmungen, die er nicht recht verstand, aber er hatte doch eingewilligt. Nach mehrmaligem Verschieben hatte er es fest für dieses Wochenende versprochen. Deshalb verstand er auch nicht, warum es so schlimm war, es auf Morgen zu verschieben.

Trotzdem, wenn er jetzt nach Hause kam, würde er vielen Fragen ausgesetzt sein. Nein, so wie er am Morgen seinen Notstand im Büro geschildert hatte, konnte er nicht hinter seine Worte. Er würde sich wohl etwas einfallen lassen müssen. Er rieb sich müde die Stirn und zuckte dann mit den Schultern, als müsste er sich dem Unausweichlichem stellen.

Zu Fuß ging er vier Blöcke weiter. Es herrschte reges Treiben in der Stadt. Einige gingen zügig und zielgerichtet, aber die meisten schlenderten vor sich hin, schauten mal hier- mal dorthin, und schleckten dabei ihr Eis. Er war einer derer, die zielgerichtet gingen. Und so trat er auch in den Laden, als die Türglocke nostalgisch sein Eintreffen verkündete.

Eric hielt direkt auf die Kasse zu, da sah er den Verkäufer hinter einem Regal knien. „Komme gleich.“ Er stellte noch den letzten Topf ins untere Regal und stand auf. Er wischte sich die Hände an seiner Schürze sauber. „Einen schönen guten Tag. Wie kann ich ihnen helfen?“

„Guten Tag“, antwortete Eric knapp. „Ich bräuchte einen Strauß von ihrem Grünzeug.“ Er machte eine ausladende Geste.

„Gerne.“ Sein Lächeln wirkte für den Augenblick aufgesetzt, doch er fing sich rasch. „Irgendwelche Vorlieben?“

Eric verkniff sich die Frage, ob er hier der Gärtner wäre. Sein Blick jedoch musste das auch so verraten haben. Der Mann nickte, als wollte er darauf antworten. „Ich kann ihnen auch gerne eine Vorschlag zeigen.“

„Sehr gerne.“ Eric lächelte nun auch, er war wohl etwas grob gewesen. Und dafür bestand kein Grund, wie er wenig später feststellte. Der Gärtner präsentierte einen wuchtigen, aber gefälligen Strauß. Eric zuckte nur kurz mit einer Braue, bevor er seine ebenfalls wuchtige Schuld mit seiner Karte beglich.

So bewaffnet fühlte er sich nicht mehr arg zu falsch unter den übrigen Passanten und fuhr wenig später aus der Parkgarage.

Abermals rieb er sich die Stirn und versuchte seinen Schreibtisch aus seinen Gedanken zu bannen, als er in die Einfahrt bog.

„Hallo“, trat er in den Flur. „Liebling?“ Er ging in die Küche. „Bist du da?“ Stille. Er rief noch einmal die Treppe hoch, doch das Haus war leer. Er blickte kurz auf den Strauß. Was sollte er tun? Sollte er sie anrufen? Nein, das würde in einem Streit enden. „Denkst du ich würde nun zu Hause sitzen und auf dich warten?“ Doch dann kam ihm eine Idee und so ging er nach draußen in den Garten. Dort kniete sie und wühlte in einem der Blumenbeete. Sie hatte nie gewollt, dass er einen Gärtner bestellte. Das wäre nicht das gleiche, meinte sie dann immer. Anfangs hatte er auch geholfen, aber nun fehlte ihm einfach die Zeit.

Etwas verloren stand er da, mit seinen Blumen. Susanne hatte ihn nicht gehört und war völlig in ihre Arbeit vertieft.

„Susanne?“, flüsterte er, weil sein Stimme eingetrocknet war. Er räusperte sich. „Liebling?“ Susanne fuhr erschrocken hoch.

„Uff, musst du dich so anschleichen?“

„Tschuldigung“, meinte er und hielt ihr die Blumen entgegen. Dabei wurde ihm bewusst, dass dies so wirken musste, als habe er ein schlechtes Gewissen. „Ich habe mir gedacht, dass heute wirklich zu schönes Wetter ist, um im Büro zu sein“, ging er in die Offensive.

„Was du nicht sagst“, lachte Susanne, aber es klang nicht froh. Sie bückte sich vor und zog die Erde über die Wurzeln der jungen Rosenstöcke.

„Ich habe mir gedacht wir könnten immer noch Picknicken gehen.“

„So so“, zeigte sich Susanne wenig überzeugt. „Woher der Sinneswandel?“

„Ich habe mich in letzter Zeit zu wenig um uns gesorgt. Du hast recht, wir sollten mehr Zeit zusammen verbringen.“ Eigentlich redete er sich in Teufels Küche. Das würde Susanne in Zukunft alles gegen ihn verwenden. Aber zumindest für den Moment hatte er seinen Frieden. Und das viele Gestreite gefiel ihm auch nicht.

Susanne hob skeptisch die Augenbrauen. „Und wenn ich den Picknick schon gegessen habe?“

„Wir wollten doch Morgen gehen?“ Eric dachte angestrengt nach, um bloß nichts Falsches zu sagen.

„Morgen soll es regnen“, erklärte Susanne nüchtern.

„Das wusste ich nicht.“

„Das habe ich dir aber gesagt. Heute Morgen noch.“

Und da war es schon geschehen, dachte Eric. „Aber dann können wir immer noch spazieren gehen“, wich er aus.

„Möchtest du das denn wirklich?“

„Aber sicher, sonst wäre ich nicht hier“, spürte Eric wieder Boden unter seinen Füßen.

„Na dann will ich nicht so sein“, stand Susanne endlich auf. „Ich glaube, ich nehme dir mal die Blumen ab, bevor du mit denen Wurzeln schlägst.“

„Gute Idee“, lächelte er und unterdrückte ein erleichtertes Ausatmen. „Wir können ja auch eine Flasche Wein mitnehmen und es uns am See gemütlich machen.“ Schadensbegrenzung war jetzt angesagt.

„Ich habe nichts angerührt, der Korb ist schnell gefüllt.“ Susanne sah ihren Mann prüfend an. „Allein macht das keinen Spaß.“

„Klasse.“ Sein schlechtes Gewissen war deutlich heraus zu hören, auch dass er wusste, dass die Wortwahl besser hätte sein können. „Dann lege ich die Decken ins Auto?“

„Mach das. Ich zieh mich rasch um.“

Eine halbe Stunde später saßen sie im Auto und Eric fuhr ausnahmsweise gemächlich über die Landstraße. Susanne mochte es nicht sonderlich, wenn er seinen gewohnt sportlichen Fahrstil an den Tag legte. Heute hatte sie kein Wort sagen müssen, aber auch ansonsten war die Fahrt reicht schweigsam. Jedem gingen eigene Gedanken durch den Kopf.

„So da sind wir“, sagte Eric unnötigerweise und ließ den Motor verstummen. Susanne sah ihn an und lächelte. „Judith meinte sie hätten im Winter hier einen Fitnesspfad angelegt und auch eine Baumallee, wo alle hier heimischen Baumarten wachsen sollen.“

„Oh interessant, dann bin ich mal gespannt“, meinte Eric und klopfte Susanne auf den Oberschenkel. Er lächelte und stieg aus.

„Ich nehme den Korb, du den Rucksack?“

„Ja.“ Susanne stieg nun auch aus. Wie immer, dachte sie, wollte es aber nicht aussprechen.

Der Wald war auch wie immer. Die Blätter bekamen allmählich ein dunkleres Grün und verrieten, dass der Frühling hinter ihnen lag. An etlichen Stellen lag noch Holz, das im Winter geschlagen worden war.

„Sieh, hier fängt der Fitnessweg an“, stellte Eric fest und blieb stehen.

„Ja“, antwortete Susanne. Es war das erste Wort, das sie unterwegs gewechselt hatten.

„Sieht eher nach einem Pfad aus“, lachte Eric geringschätzig.

„Sollen wir ihn mal anschauen?“

„Warum nicht?“ Eric war es gleich welchen Weg sie gingen. „Verlaufen werden wir uns wohl nicht.“

Der Pfad schlängelte sich eigenwillig durch den Wald und führte über viele Wurzel. „Das sind ja immer nur Stangen und Hindernisse“, kommentierte Eric kopfschüttelnd und lachte über das Angebot. „Da braucht man aber schon viel Fantasie, um sich müde zu machen.“

Susanne las die Beschreibung und gab sich einem Versuch hin. Eric wollte sich keine Faulheit nachsagen lassen. „Sieh, ich komme noch mit den Füßen an den Boden.“

Es sah einfach albern aus, wie er den Anschein gab, sich voran zu hangeln. Susanne lachte leise und brach ihren Versuch ab.

„Oh und hier kommt dann wohl die Allee“, spottete er über eine längliche Lichtung in der zwei Reihen mit Pfählen und eisernen Gittern vor ihnen auftauchte.

„Das soll die unterschiedlichen Alter der Bäume veranschaulichen. Es scheint als würden später die gleichen Bäume nachmals kommen, aber immer fünf Jahre älter.“

„Da haben einige wohl wirklich zu viel Zeit, um sich so etwas auszudenken. Als gäbe es hier im Wald nicht genug Bäume.“ Eric konnte nur noch den Kopf schütteln.

Susanne gab es auf, und sie gingen weiter. Eigentlich fand sie es interessant und wollte auch die zahlreichen Erklärungen lesen. Aber sie spürte seine Ungeduld. Den Rest des Pfades setzten sie ohne Unterbrechung fort. Auch wenn sie ihren vertrauten Weg immer wieder kreuzten, so folgten sie dennoch dem neuen Pfad. Sie hatten sich dazu entschieden, und warum sollten sie es ändern? Ansprechen taten sie es nicht. Sie gingen einfach weiter. Nur bei einer Kreuzung bogen sie ab zum See. Hier setzten sie sich auf die ihnen vertraute Bank, auch wenn sie in den letzten Jahren kaum noch hergekommen waren. Routiniert nahmen sie die zweit Decken und machten es sich gemütlich. Sie aßen Käse mit Trauben und Baguette und tranken dazu ihren Lieblingsrotwein. Es gab einfach Dinge die änderten nie, und waren immer gut.

Eric kratzte sich am Arm. Was er wohl dachte, fragte sich Susanne. Er war so weit weg. Vielleicht redeten sie wirklich nicht genug miteinander. Aber allein das störte sie nicht. Es war vielmehr ihr Schweigen, das sich nicht mehr so anfühlte wie früher.

„Du Eric?“

„Mhh?“ Er war wirklich weit weg gewesen. „Ja Liebling?“, fragte er reflexartig.

„Du kennst dich doch aus mit Geschäften.“

„Ja, das kann man so sagen“, lachte er. „Aber das weißt du doch.“ Er sah sie irritiert an. „Warum fragst du?“

„Ach nur so“, wich Susanne aus. „Es ist wegen Judith“, meinte sie dann doch. „Es geht mir etwas nicht aus dem Kopf.“

„Was hat sie mit Geschäften zu tun?“

„Nicht direkt. Wir haben nur so geredet.“

„So so“, sagte er. Der Ton verriet ihr, dass er sein Interesse verlor, das aber nicht sagen wollte.

Eine Weile schwiegen sie.

„Was würdest du einem Kunden raten, wenn er viele Firmen hätte, aber eine einfach nicht mehr so gut produziert?“

„Grunderneuern oder verkaufen. Normalerweise ist dann irgendwo der Wurm drin. Mit ein bisschen Ändern kann man da nichts mehr machen.“

„Aber wenn er an der Firma hängt!“

Eric lachte. „Das hat damit nichts zu tun!“

„Aber wenn es seine erste Firma war? Wenn er seine ganze Leidenschaft hinein gesteckt hat?“

„Egal, weg damit. Umso schlimmer, wenn man daran hängt. Dann trifft man die falschen Entscheidungen. Weg damit und neu anfangen.“

„Mhh.“ Susanne dachte darüber nach und Eric lachte leise vor sich hin. Woran er wohl dachte?

„Dann ist Liebe nichts worauf man etwas geben sollte?“

Eric wurde stutzig und sah sie nun direkt an. Sie erwiderte kurz den Blick, aber betrachtete dann erneut den See.

Eric ließ sich diesmal Zeit. „Liebe ist wichtig! Auch bei Geschäften.“ Er dachte nach und ließ seine Worte wirken. „Wenn man etwas tut, was man nicht liebt, dann wird es auch nicht gelingen. Aber man darf sich nicht blenden lassen, und nicht wegen der Liebe, die man am Anfang empfunden hat am Geschäft festhalten. Das zieht einen nur selbst runter, bis in den Ruin.“

Susanne antwortete nicht mehr und auch Eric schwieg. Aber von Zeit zu Zeit spürte Susanne einen Blick auf sich ruhen.

„Warum hat Judith davon geredet?“, brach er endlich das Schweigen und Susanne spürte, dass er ganz bei ihr war.

„Wegen Tobias. Ich glaube sie will sich scheiden lassen.“

Eric stand der Mund offen. Er setzte an etwas zu sagen, aber es formten sich keine Worte.

„Ich denke du solltest in nächster Zeit für ihn da sein.“

Eric nickte stumm und sah runter zum See. Es platschte als eine Ente aus dem See flog. Eine zweite direkt hinterher. Eric kratzte sich am Arm.

„Susanne?“

„Ja?“

„Ich liebe dich, das weißt du doch?“

„Ja, ich weiß.“ Sie griff nach seiner Hand.

„Ja, ich weiß.“

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Die Glaswand

„Samstag“, stand es groß und schwarz auf dem Kalender. Der Monat verriet teilnahmslos den Beginn des Frühlings, welcher sich noch hinter einer gräulich leuchtenden Wolkendecke versteckte.

Der Morgen war eben erst angebrochen, und begann wie die Tage davor, die Wochen, die Monate. Die Zahlen auf dem Kalender wechselten, ebenso wie die Akten auf dem Schreibtisch. Leblos lagen sie da, und zerrten den Mann an den Schreibtisch. Sie übten eine große Macht auf ihn aus und wirkten dennoch unschuldig.

Der Schreibtisch war bis ins kleinste Detail aufgeräumt. Die Lampe darauf glühte nicht, einzig das große Fenster spendete ein kaltes fahles Licht. Dennoch saß ein Mann davor, sinnend, und starrte auf die dicke Holzplatte. Er war noch müde und rieb sich das Gesicht, als könnte er seine Müdigkeit damit vertreiben. Doch sein Blick blieb kraftlos. Hilflos suchend, blickte er sich um. Er wusste nicht, wonach er suchte. Kurz blieb sein Blick an einem Foto haften. In seinem Kopf hörte er Vorwürfe, und wandte sich ab.

Es war Wochenende, doch das kannte er nicht. Er wollte arbeiten. Es galt die Akten zu wälzen, die für die nächste Woche fertig sein mussten. Aber er bewegte sich nicht. Er fand den Anfang nicht. Sein Erscheinen war makellos, sein Rücken gerade. So saß er da und sah aus, als würde er jeden Augenblick loslegen. Doch die digitale Uhr zerstückelte die Zeit in Zahlen, ohne dass sich etwas änderte. Widersprüchliche Gedanken hielten ihn in dieser Starre gefangen.

Die Wände waren an sich weiß, aber im matten Licht wirkten sie grau und kalt. Die weichen Ledersessel standen leicht verloren im großen Zimmer umher, und versuchten vergebens, den Eindruck von Luxus zu verteidigen. Doch die Welt bekam Risse. Die Illusionen verblassten mit der Zeit. Er hatte hart für all das gearbeitet. Viele hatte er damit beeindrucken können, gar sich selbst, doch nun erdrückte es ihn mit seinem kalten Glanz. Er hörte seine Frau nach ihm rufen. „Gleich, ich muss nur noch kurz“, hörte er sich antworten und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Nur kurz, doch daraus waren Jahren geworden. Nun war er allein, weil sie nicht gewartet hatte.

Der Mann hatte seinen Kopf in seine Hände sinken lassen und hielt sich mit ihnen die Ohren zu, als wollte er die Schreie ersticken, welche nur er hören konnte. Sie schrien nach ihm, als wollten sie ihm etwas sagen. Doch er wusste, was diese Stimmen sagen wollten, und er wollte es nicht hören. Was wussten die schon – diese rastlosen Stimmen, die ihn auch in seinen Träumen verfolgten.

Sie wollten ihn bremsen. Voller Neid waren sie wegen seinem Erfolg. Kein Wunder, dass sie so verzweifelt schrien.

Das fahle Licht, das von den Wänden zurück geworfen wurde, ließ ihn alt erscheinen. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt, und so konnte er nur in den endlosen Raum hineinstarren. Doch den sah er längst nicht mehr. So viel hatte er erreichen wollen, so viel hatte er erreicht, und doch war ihm alles verloren gegangen. Alles was ihm geblieben war, war grau und kalt. Die Akten waren ihm treu geblieben und verlangten nun, dass er sich ihrer annahm.

Dach dann stand er auf. Langsam, als wäre er ein alter Mann. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem tonlosen Gähnen, während er seine Arme auseinanderriss, als versuche er, aus seinem Körper auszubrechen.

Er drehte sich um und stand gleich vor dem Fenster, welches bis an die weit entfernte Decke reichte. Viele Meter lang war dieses, und ersetzte eine ganze Wand.

Die Wolkendecke war stark durchflutet von Licht, und ließ den Himmel weiß erscheinen. Der Blick des jungen Mannes glitt langsam von einer Seite zur anderen. Die Bewegung war gleichmäßig, und er selbst unberührt von dem, was er sah. Geblendet von der gleichmäßigen Flut weißen Lichts, stand er da, leblos, wie der Raum hinter ihm. Nur die Uhr wechselte ihr Gesicht und verriet, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Draußen umrahmte eine Hecke die weite Wiese, in der einige Bäume standen. Endlich schien der Mann etwas zu bemerken. Ihm fiel auf, wie der Wind in den Ästen spielte.

Er hielt den Atem an, horchte, doch das Rascheln der tänzelnden Blätter fehlte. Er strengte sich an, doch er fühlte nichts. Es war ihm alles fremd, und so fern. Er versuchte sich zu erinnern, doch es blieb ihm verborgen. Die Welt da draußen, er hörte sie nicht, er fühlte sie nicht.

Nah am Fenster wackelte ein Ast. Ein Vogel, eben gelandet, trällerte sein Lied. Doch nur der Schnabel bewegte sich. Das Fenster schluckte jedes Geräusch. Stummfilm, sein Leben, es war draußen, ausgeschlossen. So fern und unerreichbar wie jedes Gefühl.

Wieder bewegte sich etwas. Ein Junge tanzte lachend auf dem Rasen. Wochenende, sein Sohn wusste das, und spielte mit dem Drachen. Ein Geschenk aus einer lange vergangenen Zeit.

Hoch flog er, lebhaft spielten sie. Der Drache, sein Sohn und der Wind. So wie er es getan hatte – früher – in einer anderen Welt. In einer, in der er den Wind noch gespürt hatte.

Es war nur mehr eine Erinnerung. Alleine stand er da, und starrte hinaus. Sinnend drehte er sich um, sah den Schreibtisch. Das Gesicht der Uhr schrie ihn an. Eine andere Stimme war es. Mächtig, beide kämpften, wie Teufel und Engel auf seiner Schulter. Wie hatte er das zulassen können? Warum waren ihm die Zeichen verborgen geblieben? Er hörte die Stimme seiner Frau nach ihm rufen. Anschreien tat sie ihn.

Doch nun war es zu spät. Sie und sein Sohn lebten ihr eigenes Leben. Sein Kopf sank gegen die Glasscheibe. Seine flache Hand legte er gleich daneben und es sah aus, als wollte diese durch die Scheibe hindurch greifen. Doch er war zu schwach. Wütend verzog sich seine Hand zu einer Faust und pochte zweimal gegen das Glas. Resignierend glitt sie nach unten, und er stieß sich ab. Dann zog er seinen Stuhl hervor und setzte sich. Wahllos nahm er eine Akte in seine Hand. Welche, war bedeutungslos.

Videos – Kurzgeschichten

Alle Kurzgeschichten sind vorgelesen von Mandy Hemmen. Viel Spaß beim Anhören.

Sophies Referat

Ist Kritik an Anderen nicht oft auch Kritik an uns selbst, die wir nicht verstehen?

Die Glaswand

Wochenende eines Workaholics

Der falsche Tag

Manchmal rufen wir das Unglück herbei, manchmal verfolgt es uns, weil wir es nicht los lassen können…

Die Herrin der Dächer

Grenzen sind die Monarchie der Moderne.

Das Hochhaus

Ein Fahrstuhl, ein Königreich für ein kleines Mädchens.

Kinderschrei

Das einzige Rennen, das man verliert, wenn man zu schnell ist.

Der Baum, der Zeuge

Eine Liebe, die den alten Mann bis zu seinem letzten Atemzug begleitet.

Kränkelnde Gesellschaft

Besuch in einem Wartezimmer. Schweigen, zwecks steriler Notwendigkeit.

Der falsche Tag

Im Augenwinkel sah er es kommen. Als er realisiert hatte, was geschehen würde, wusste er bereits, dass es unausweichlich war. Sein Griff um das Lenkrad wurde fester. Sein Fuß sprang auf die Bremse.
Seine Schultern zogen sich zusammen. Sein Auto stand und er wartete auf den Knall. Wie verrückt schossen Gedanken durch seinen Kopf. Warum hatte er nicht achtgegeben? Er sah die vorletzte Ampel, die ihn orange-rot vorbei gewunken hatte. Wäre er da stehen geblieben, wäre er nun nicht hier.
Ein lauter Knall ertönte und ein kräftiger Ruck durchfuhr seinen Körper. Sein Auto drehte sich und wurde leicht seitlich gedrückt, während ein schwerer Mittelklassewagen seinen schwarzen Porsche verunstaltete.
Von hinten hörte er eine Hupe lärmen. Ein Unbeteiligter suchte Aufmerksamkeit und musste seinen unnötigen Kommentar abgeben. Dieser Fremde war ihm auf Anhieb unsympathisch. Das zeigte er ihm auch deutlich, als er aus seinem Porsche ausstieg und ihn vorbei wank. Zu dumm, um vorbei zu fahren! Aber Hauptsache Hupen und Glotzen. Obwohl dieser Gaffer stehen blieb und das Fenster runter ließ, ging der Mann auf die andere Seite seines Wagens und betrachtete mit reichlich Unbehagen den Schaden. Doch er konnte nicht viel erkennen. Die dunkelblaue Schnauze des Eindringlings drückte gegen den Motorblock.
Er spürte, dass ihn jemand von hinten anstarrte, und blickte auf.
Eine Frau stand neben ihrem Auto und blickte finster drein.
„Danke der Nachfrage. Mir geht es gut!“
„Gut“, antwortete er und wandte sich seinem Sportwagen zu.
„Gut? Sie denken wohl sie können sich mit ihrem Geld alles kaufen. Sie spinnen doch! Wollen bei voller Fahrt über eine andere Fahrspur hinweg abbiegen und sagen dann, dass alles gut ist?“
„Ist ja nur Blechschaden, das regelt die Versicherung. Für den Rest geht es ihnen gut!“
Ihre Wut kochte hoch, doch sie war so perplex, dass sie ihre Worte nicht geordnet herausbringen konnte.
„Das Gespräch hat für mich den Reiz verloren. Hier meine Karte. Schicken sie mir die Rechnung. Ich kontaktiere meinen Agenten, dass er den Schaden schnellst möglichst begleicht. Danke!“
Er wandte sich ab.
Der Pförtner war inzwischen aus der Bank herbeigeeilt.
„Ah, Herr Günther, gut, dass sie kommen.“ Der Fahrer ging auf den Pförtner zu. Dieser war noch außer Atem und blickte sich irritiert um.
„Füllen sie für mich den Unfallbericht aus.“ Er drückte ihm den Wagenschlüssel in die Hand. „Vielleicht versuchen sie auch den Wagen zu rücken. Er steht etwas ungünstig.“
Die Frau blieb ungläubig stehen und wirkte verwirrt, als der Pförtner die Angelegenheit regeln wollte.
Derweil wartete der Mann auf den Fahrstuhl. Im obersten Geschoss wartete sein aufgeräumter Schreibtisch auf ihn. Er riskierte einen flüchtigen Blick nach draußen, doch von dem Geschehen dort unten war nichts zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Ärgerlich war das schon. Er öffnete sein Notebook und feilte an seiner Rede, die er am späten Nachmittag halten würde. Eckdaten glich er mit dem Berichtheft ab, den seine Abteilung angefertigt hatte. Nachdem er einige Seiten durchgeblättert hatte, merkte er, dass seine Änderungswünsche nicht umgesetzt worden waren.
Ungeduldig sprang er auf. Seine Sekretärin war eben eingetroffen und hing ihren Schall um die Jacke am Bügel.
„Guten Morgen Herr Münsner.“
„Morgen.“ Mit zügigen Schritten marschierte er an ihr vorbei.
Er konnte nicht sehen, dass sie die Brauen krauszog. Sie wusste um seine Launen. Und sie wusste, dass heute kein guter Tag war.
„Herr Künbach?!“ Er stürmte hinter der Trennwand hervor. Er blickte sich um, doch dieser war noch nicht da.
Und der will mein Nachfolger werden?, dachte er und drehte auf der Ferse um.
„Frau Rietsche bestellen sie Herrn Künbach zu mir, sobald er gedenkt aufzutauchen.“
Bevor er seinen Tisch erreichte, eilte der Bericht ihm voraus und landete zielgenau neben seinem Laptop. Ihm blieb nur noch Zeit stumm über sich zu fluchen, bevor ein Schäppern ertönte.
„Ach Scheiße!“ Sein Arm machte eine wütende Geste, als die Tasse über den Boden kullerte. Dann wank er ab und stellte sich zur Fensterfront.
Keine Sekunde später stand seine Sekretärin im Raum. Sie sah, was geschehen war, und wischte den Kaffee auf. Frau Rietsche war seit sieben Jahren seine Sekretärin. Sie wusste, was die Stunde geschlagen hatte, und sah ihn eine Weile an, während er bewegungslos vor dem Fenster stand. Nun war es auch fast schon vier Jahre her, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Sie wusste warum. Sie empfand Mitleid und ließ ihn allein.
Um Viertel nach acht tauchte Herr Künbach auf. Er war Mitte vierzig. Seine breiten Schultern unterstützten sein selbstbewusstes Auftreten. Als er am Sekretariat vorbei schritt, fing Frau Rietsche ihn ab und flüsterte ihm schnell etwas zu, drückte ihm eine Tasse Kaffee in die Hand und wünschte ihm viel Glück.
Er klopfte gegen die geöffnete Glastür und trat vor den Schreibtisch seines Vorgesetzten. Er wartete, bis dieser ihm Aufmerksamkeit schenken wollte und von seinen Unterlagen aufschaute.
„Herr Künbach!“ Die Stimme klang donnernd.
„Herr Münsner, Frau Rietsche bat mich, ihren Kaffee mitzubringen.“
„Sicher“, ein Zucken umspielte seine Lippen. „Mit Kaffee bringen allein verdienen sie sich aber nicht meinen Stuhl.“
Herr Künbach nickte zustimmend, ließ sich aber davon nicht beeindrucken.
Seine Beförderung war beschlossene Sache und Herr Münsner war daran nicht ganz unbeteiligt, wie er aus anderen Kreisen vernommen hatte. Herr Münsner hatte es geschafft innerhalb kürzester Zeit einige beachtliche Karrieresprünge hinzulegen. Meistens war er der Erste, der kam und nicht selten begegnete er dem Nachtwächter, wenn er ging oder ließ sich von diesem das bestellte Essen bringen, wenn er die Nacht über im Büro blieb. Das Sicherheitsprotokoll verbot den Lieferdiensten, die oberen fünf Etagen zu betreten. Das war eine der vielen Regeln, die er selbst eingeführt hatte. Datensicherheit und Effektivität waren seine größten Sorgen. Er hatte dem Unternehmen seinen Stempel aufgedrückt. Dabei war er selbstverständlich auf reichlich Widerstand gestoßen. Doch die meisten seiner Widersacher arbeiteten heute bei Mitbewerbern. Wer klug war, hatte sich auf seine Seite gestellt und ist in seinem Sog die Karriereleiter raufgefallen.
Herr Künbach war einer davon.
„Sie kommen spät!“
„Verzeihen sie der Verkehr hatte heute gestaut.“
„Dann fahren sie Bus, wenn sie nicht Autofahren können!“
Herr Künbach schluckte seine Antwort hinunter.
„Sie haben noch die Notizen zum Bericht?“ Herr Münsner legte den Bericht so, dass Herr Künbach ihn erkennen konnte, und passte auf, den Kaffee diesmal nicht zu treffen.
Künbach nickte. Er hatte gelernt, dass sein Gegenüber in dieser Stimmung auf jedes Wort allergisch reagieren konnte.
„Dann sorgen sie dafür, dass sie auch eingearbeitet werden. Bis spätestens 14 Uhr liegen 20 Exemplare eines makellosen Berichtes auf meinem Schreibtisch!“
Diesmal musste Herr Künbach schlucken. Er wusste, dass es nicht sein Fehler gewesen war. Eine Ausrede, sei sie noch so begründet, würde ihm nur eine Schlinge um den Hals legen.
Er nickte, nahm den Bericht und ging einige Schritte rückwärts.
Herr Münsner wandte sich seinen Unterlagen zu. Herr Künbach war heilfroh den Raum verlassen zu können.
„Und Herr Künbach?“
Der Gerufene kniff die Augen zu, drehte sich dann aber seitlich.
„Und bringen sie sich ein Exemplar mit. Ich möchte sie dabei haben, wenn ich denen sage, dass sie ab nächster Woche dieses Projekt übernehmen.“
Herr Künbach nickte abermals und beeilte sich hinaus zu können.
Wenig später stand unangekündigt eine Person im Türrahmen.
„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“ Er ließ sich nicht herab, von seiner Arbeit abzulassen und markierte eine wichtige Passage.
„Verzeihen sie.“
Diese Stimme hatte Herr Münsner noch nie im Büro vernommen und so blickte er doch auf und erkannte den Pförtner, der unbeholfen da stand.
„Wenden sie sich an meine Sekretärin. Wieso glauben sie wohl bezahle ich die?“
„Verzeihen sie.“ Der Pförtner wünschte sich in Luft aufzulösen und suchte vergebens nach Worten.
Herr Münsner wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren und wank ihn hinein. Je schneller dieser sagte, was er wollte, je schneller war er wieder weg.
„Verzeihen sie, ich habe mir erlaubt die“ er schaute kurz aus dem Fenster. „Angelegenheit selbst zu regeln. Ich wollte so wenig wie möglich Aufsehen erregen.“ Er nickte in Richtung Sekretariat.
Herr Münsner lachte erfreut.
„Mal einer, der mitdenkt!“ Herr Münsner stand auf und ging auf den Pförtner zu. „Und?“
„Und der Wagen ist in der Werkstatt.“
Herr Münsner nahm die Visitenkarte, die der Pförtner ihm reichte.
„Ein angemessenes Ersatzauto können sie erst gegen 15 Uhr vorbei bringen.“
„Danke, ich rufe selbst da an und spreche das mit denen ab.“ Er steckte dem Pförtner 50 Euro zu und komplimentierte ihn mit einer Geste hinaus.
Der Pförtner hatte ihm ermöglicht der Blöße zu entgehen und so wollte er die Gelegenheit nutzen und rief sogleich die Werkstatt an, sie sollten ihm das Auto nach Hause bringen und den Schlüssel durch den Briefschlitz in der Tür schieben.
Daraufhin kreisten seine Gedanken um wichtigere Dinge. Der Morgen und der Nachmittag verflogen so ereignislos, wie an jedem anderen Tag auch. Er ärgerte sich und ärgerte sich, dass er sich ärgerte und seine einzige flüchtige Freude war, dass er alle dazu brachte, mehr oder weniger zu spuren.
Die Hektik, die ihn in dieser Woche beflügelte, genoss er in vollen Zügen. Sehr zum Leidwesen aller, die ihn an diesem Tag zu sehen oder zu hören bekamen.
Es war spät am Abend, als er aus dem Fahrstuhl in die Tiefgarage trat. Diese war zu dieser Stund fast leer und erst da wurde ihm wieder bewusst, dass sein Wagen heute nicht auf ihn warten würde.
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und nahm der Seitenausgang aus der Tiefgarage.
Ein kühler Wind empfing ihn, als er auf den menschenleeren Bürgersteig trat. Dann würde er eben ein Taxi nehmen. Doch dazu war er auf der falschen Seite der Bank. Er ging in Richtung Taxistand, verlor dann aber die Lust, so früh zu Hause zu sein. Eigentlich, so dachte er, würde die frische Luft ihm auch einmal gut tun. Er überquerte die breite Straße und war nach wenigen Hundert Schritten im Stadtpark. Dieser würde ihn mit einigen Unterbrechungen und einem kleinen Umweg nach Hause führen.
Dass er den ersten Teil bereits hinter sich hatte, wurde ihm bewusst, als er eine weitere Hauptstraße überquert hatte und den nächsten Wald betrat.
Sein Tempo zeigte die gleiche Ungeduld, die er auch im Büro an den Tag legte.
Als er auf seine massive Armbanduhr sah, erklärte diese ihm, dass er mit dem Taxi kaum schneller gewesen wäre. Doch aus irgendeinem Grund wollte ihn dieser Umstand an diesem Tag nicht beruhigen.
Deshalb tat er, was er seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Er wollte sich zwingen seine Umgebung zu genießen. Und tatsächlich, er hörte fremd gewordene Geräusche. Das Rufen eines Vogels, ein Rascheln eines Tieres. Er betrachtete die dicken Stämme der Bäume und war selbst verwundert, dass er dabei nicht als Erstes an den Deal mit den Südamerikanern gedacht hatte. Seine Gangart änderte sich aber nicht.
Erst als sein Fuß gegen etwas stieß und ein weicher Gegenstand leicht vom Boden abhob und fast geräuschlos vor ihm landete verharrte er. Unentschlossen schaute er im Dunkeln auf den Pfad vor sich, wo sich undeutliche Konturen emporhoben. Er bückte sich und hob einen verloren gegangenen Teddybär auf. Dieser war kuschelig weich. Durch die Abendkühle war er leicht feucht geworden, doch lange hatte er noch nicht hier gelegen. Der Mann hielt ihn mit beiden Händen vor sich und betrachtete ihn.
Plötzlich wurde ihm bewusst, was er tat und so setzte er den Teddy am Wegesrand ab und ging weiter. Nach vier Schritten blieb er stehen. Er drehte sich um und sah hinunter zum Bär, der nach vorne gekippt war.
Der Mann kehrte um und nahm das Kuscheltier auf den Arm.
Wieder ging er weiter, aber diesmal viel langsamer. Er wusste er würde den Teddybär nicht mitnehmen können. Er ging bis zur nächsten Bank und setzte sich hin. Er drückte den Teddy fest gegen seine Brust. Welches Mädchen mochte den verloren haben? Er wusste, wie traurig es nun sein würde. Tränen rannen seine Wangen runter. Er hatte auch eine Tochter. Er hielt den Teddybär eine Weile fest.
Dann setzte er ihn vorsichtig neben sich auf die Bank. Er stand auf und ging. Er ließ den Teddybär zurück. Nur seine Tränen nahm er mit. Auch seine Trauer begleitete ihn. So wie seine Gedanken an seine Tochter. An diesem Tag war es vier Jahre her, dass sie gestorben war. Giftige Beeren.