Wenn wir uns die Situation auf unseren Straßen anschauen, dann spiegelt sich darin viel von unserem Verhalten als Gesellschaft wieder. Es ist eine Form eines geduldeten zivilisierten Krieges mit klaren Regeln und eines individuell gesteuerten Triebes, als erster ankommen zu wollen.
Wir beklagen, dass es zu viel Verkehrsaufkommen gibt, längst nicht mehr nur zu Stoßzeiten. Stau, Unfälle und Verkehrstode sind die Folge.
Wenn wir uns bewusst werden, dass das Errichten und Unterhalten unseres Straßennetzes ein gemeinschaftliches Projekt unserer Gesellschaft ist, mit dem Staat als unser Repräsentant, wirkt es etwas bizarr, dass flüssiger Verkehr allzu oft dadurch scheitert, dass es an gesellschaftlichem Handeln oder ebensolcher Verantwortung mangelt. Dabei meine ich nicht, dass es an Regeln mangelt. Will man das Problem ergründen, sollte man auch nicht lapidar behaupten, es läge daran, dass die Regeln nicht befolgt werden. Klar, das ist eine Tatsache, aber ich bin der Auffassung, dass es nicht das Problem, sondern vielmehr ein Symptom für die eigentlichen Probleme darstellt.
Das bewusste, und auch das unbewusste Missachten von Regeln, ob nun Gesetz oder Konsens (ungeschriebenes Gesetz), ist für mich eine Frage der Einstellung eines jeden Individuums und in der Summe auch eine Frage der Fahrkultur auf der Ebene der Gesellschaft. Doch warum fahren wir, wie wir fahren? Und wie reagieren wir oder vielmehr der Staat auf augenscheinliche Probleme und was können wir daraus über das Verständnis des Staates schließen?
Solange der Mensch Handlungen durchführt, wird es auch Unfälle geben. Das gilt uneingeschränkt auch für das Autofahren. Trotz aller Regeln und selbst, wenn sie alle mit Überzeugung befolgt würden, gäbe es noch Unfälle. Es gibt Unfälle, die passieren aufgrund von Leichtsinnigkeit, sei es Ungeduld, Stress oder Übermütigkeit. Und nicht zuletzt gibt es fahrlässig ausgelöste Unfälle, die meistens sehr eng mit Regelverstoß zusammenhängen.
Davon unabhängig gibt es ungünstige Straßenführungen, die alle anderen Unfallursachen begünstigen. Seien es rechtwinklig zu viel befahrenden Hauptstraße mündende Autobahnausfahrten oder Kreuzungen in unübersichtlichen Zonen.
Jeder Autofahrer dürfte wohl Straßenbereiche kennen, die besonders unfallträchtig sind. Es gibt nicht wenige Menschen, die entwickeln bewusst oder unbewusst Lieblingsstrecken, indem sie solche Bereiche meiden, weil sie möglicherweise selbst heikle Situationen dort erlebt hatten und diese Beinaheunfälle nicht wiederholt haben wissen.
Wenn zu beobachten ist, dass an einer Stelle gehäuft Unfälle geschehen, dann folgt oft, dass die Verkehrsschilder so geändert werden, dass die Maximalgeschwindigkeit reduziert wird. Das klingt zunächst auch einleuchtend, weil je langsamer man fährt, umso eher kann man reagieren, um einen Unfall zu vermeiden. Was ist aber an den Stellen, wo beispielsweise Tempo 90 erlaubt ist und Unfälle passieren, wo der Unfallverursacher mit 120 km/h unterwegs war oder er mit 140 km/h gegen einen Baum gerannt ist? An solchen an und für sich ungefährlichen Strecken wird dann trotzdem gerne versucht mit Tempo‑70-Schildern den Unfällen entgegen zu wirken. Erstaunlich, dass es beim Staat Menschen gibt, die glauben, dass man das Nichtbefolgen von Gesetzen dadurch behebt, dass man Gesetze ändert und Bewegungseinschränkungen einführt, die keine Relevanz haben. Im Prinzip wird dieses nicht sinnvolle Tempo‑70-Schild zwei Konsequenzen haben, die meist ignoriert werden, weil sie nicht messbar sind. Es wird Fahrer geben, die sich an die neue Tempolimitierung halten werden, obwohl es dazu keine Begründung gibt. Dadurch werden Raser, aber auch vernunftgesteuerte Menschen bei der Fortbewegung behindert. Sie fühlen sich – zurecht – belästigt und ausgebremst und es liegt in der Natur des Menschen darauf mit einem gewissen Maß an Aggression zu reagieren und einen Stressfaktor in den Verkehr einfließen zu lassen, der unnötig ist. Das Gefühl, dass Krieg auf den Straßen herrscht wird verstärkt und das allgemeine Unfallrisiko auch anderenorts erhöht. In meinen Augen ist aber die zweite Konsequenz umso dramatischer. Dadurch, dass die Tempolimitierung unter ein Maß abgesenkt wird, das für die Verkehrssicherheit sinnvoll ist, wird die Regel als einen staatlichen Zwang empfunden, der nicht damit vereinbar ist, dass die Gesetze dazu da sind gesellschaftliche Interessen zu schützen. Fatal ist, dass dadurch die Warnwirkung von Verkehrszeichen verloren geht und das Befolgen der Verkehrszeichen auf einen Selbstzweck reduziert wird. Die normale Reaktion, wenn man eine Tempobeschränkung bemerkt müsste sein: Achtung, bitte fahr vorsichtig, es kommt eine unübersichtliche Biegung, Kreuzung oder Ausfahrt und es ist sinnvoll das Tempo zu reduzieren. Stattdessen degradiert sich durch das leichtfertige Setzen von Verkehrszeichen deren Botschaft auf: Achtung, wenn du jetzt nicht bremst, dann kann die Polizei dich abzocken. Dadurch wird dem Befolgen von Verkehrszeichen ein monetärer Wert zugesprochen, der dem Erwartungswert der Bestrafung entspricht. Dieser ist nicht das Bußgeld, sondern das Produkt aus Bußgeld und der Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden.
Die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden hängt davon ab, wie oft kontrolliert wird. Bei Einheimischen sind die Abzockstellen der Polizei bekannt, sodass die Hemmschwelle sinkt, an anderen Stellen zu schnell zu fahren. Zudem ist es kein gesellschaftliches Interesse sich prinzipiell an Verkehrsschilder zu halten. Das Hauptinteresse gilt dem Vermeiden von Strafgebühren. Deshalb solidarisiert sich die Gesellschaft gegen den Staatsapparat und warnt den Gegenverkehr, wenn Polizeikontrollen entdeckt worden sind. Radiostationen und Internetportale werden fleißig mit den Kontrollstellen gefüttert. Auch wenn die Polizei inzwischen aus der Not eine Tugend macht und aus eigener Initiative ihre Kontrollen offiziell ankündigt, um zu zeigen, wie präsent sie ist und dadurch die empfundene Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden, steigern möchte, so bleibt es dabei, dass es ein waffenloser Krieg ist. Individuum gegen Individuum und Gesellschaft gegen Staat (der nichts weiter sein sollte als der Repräsentant der Gesellschaft). Verkehrssünder werden von der Gesellschaft nicht als Straftäter angesehen, sondern als Märtyrer. Durch jedes unnütze Verkehrszeichen, jede unsinnige Beschränkung und jede Kontrolle an ungefährlichen Stellen steigt die wahrgenommene Rechtfertigung der Verkehrszeichen als Gelddruckmaschine des Staates und es sinkt das empfundene schlechte Gewissen, wenn man sich nicht an die Gesetze hält. Daraus kann man schließen, dass der Staat die Gesellschaft als Gegner betrachtet und sie nicht ernst nimmt – es geht um Macht und das scheinheilige „Es geht um die Sicherheit der Bürger“ ist nur eine Maske.
Raser müssen bestraft werden, aber nicht pauschal die Gesellschaft, weil die erste Forderung an das Verkehrssystem ist und bleibt, dass man so schnell wie möglich von A nach B gelangen kann. Wenn diese Freiheit beschnitten wird, muss es immer einen triftigen Grund geben.
Wir brauchen eine sensibilisierte Gesellschaft, die weiß, dass Verkehrszeichen einzig und allein zu ihrem Schutz existieren und nicht aufgrund von sozialer und psychologischer Inkompetenz und Kriegsführung des Staatsapparates.
Das allein wird allerdings noch nicht das Problem lösen, dass sich gehäuft nicht an die Verkehrsordnung gehalten wird. Das hat weitreichendere Einflüsse als solche, die durch Regeln erfasst werden können. In meinen Augen ist es zu einem großen Teil ein gesellschaftliches Problem und hier vor allem auf sozialer Ebene.
Es beginnt mit dem Image des Autos als Status- und Machtsymbol. Mit geringer PS-Zahl unter der Haube wird man schnell mitleidig von oben herab betrachtet. Warum man aber bei dem heutigen Verkehr 200 PS und mehr braucht, wird nicht hinterfragt. Je mehr Lärm es macht, umso neidischer sind die Blicke. Dabei ist Lärm im Maschinenbau stets ein Zeichen für Ineffizienz. Sei´s drum. Diese Denkweise begünstigt die rücksichtslosere Fahrkultur, aber sie erklärt sie noch nicht. Vielmehr ist es ein psychologisches Problem, welches aus den sozialen Problemen unserer Gesellschaft erwächst. Denn der rücksichtslose oder etwas aggressivere Fahrstil dient als Ventil für Emotionen, die in unserer „harten“ Scheinwelt nicht abgebaut werden können, weil wir sonst als weichlich dargestellt werden. Wir müssen funktionieren und stark erscheinen. Und dabei ist das Autofahren ein hervorragendes Ventil, weil dadurch, dass man sich Anderen gegenüber gleichgültig zeigt oder diese gar unter Druck setzt (drängelt), wird man in unserer Gesellschaft als hart angesehen und dadurch geachtet – auch und vor allem wenn es asozial ist.
Hinzu kommt die zunehmende Kontrolle und Bevormundung durch die Gesellschaft und den Staat. Autofahren ist dabei eine der letzten Bastionen der Selbstbestimmung und PS-Stärke ein als solches empfundenes Freiheitsmaß. Zwar gibt es Regeln, aber in dem Moment in dem man das Gaspedal runterdrückt und eine erschrockene Oma vor einer Kurve überholt, ist man mächtig. Krieg ist Krieg und unser Fahrstil ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft mit ihrem asozialen Verhalten und Regeln, die ihrer selbstwillen da sind, oder weil Beamten diese aus Trotz in die Landschaft pflanzen.